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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.
Gemütes (wie das Christentum viele gekannt hat), sondern er ist
ein religiöses Genie, der nach der von Christus gelehrten, inneren
"Umkehr" strebt, und durch die Episteln des Paulus dieser Wieder-
geburt teilhaftig wurde; er erzählt uns, wie gerade durch Paulus allein
in seine von Leidenschaften zerrissene, durch jahrelange innere Kämpfe
und fruchtlose Studien der völligen Verzweiflung verfallene Seele
plötzlich Licht, Frieden, Seligkeit eindrang (Conf. VIII, 12). Mit vollster
Überzeugung, mit tiefem Verständnis erfasst er die grundlegende Lehre
von der Gnade, der gratia indeclinabilis, wie er sie nennt; sie ist
ihm so sehr die Grundlage seiner Religion, dass er die Benennung als
"Lehre" für sie abweist (De gratia Christi, § 14); und als echter
Jünger des Apostels, zeigt er, dass das Verdienst der Werke durch die
Vorstellung der Gnade ausgeschlossen sei. Schwankender und mit den
indischen Religionslehrern nicht zu vergleichen ist seine Auffassung von
der Bedeutung der Erlösung sowie auch der Erbsünde; denn hier trübt
die jüdische Chronik sein Urteilsvermögen, doch ist das fast neben-
sächlich, da er andererseits den Begriff der Wiedergeburt als den un-
verrückbaren Mittelpunkt des Christentums festhält.1) Und nun kommt
dieser selbe Augustinus und verleugnet fast alle seine innersten Über-
zeugungen! Er, der uns gesagt hat, wie er Gott in seiner eigenen
innersten Seele entdeckt und wie Paulus ihn zur Religion geführt habe,
schreibt nunmehr (in der Hitze des Gefechtes gegen die Manichäer):
"Ich würde das Evangelium nicht glauben, wenn nicht die Autorität
der katholischen Kirche mich nötigte, es zu thun".2) Hier steht also
für Augustinus die Kirche -- von der er selber bezeugte, sie enthalte
wenige wahre Christen -- höher als das Evangelium; mit anderen
Worten, die Kirche ist Religion. Im Gegensatz zu Paulus, der aus-
gerufen hatte: ein Jeder sehe zu, wie er auf der Grundlage Christi
baue, erklärt Augustinus: nicht die Seele, sondern der Bischof habe
den Glauben zu bestimmen; er weigert den ernstesten Christen etwas,

1) Namentlich in De peccato originali. Über die Gnade spricht sich Augustinus
besonders deutlich in seinem Brief an Paulinus, Abschnitt 6, aus, wo er gegen
Pelagius polemisiert: "Die Gnade ist nicht eine Frucht der Werke; wäre sie es, so
wäre sie keine Gnade mehr. Denn für Werke wird gegeben, was sie wert sind;
die Gnade aber wird ohne Verdienst gegeben." In Ambrosius hatte er in dieser
Beziehung einen guten Lehrer gehabt, denn dieser hatte gelehrt: "nicht aus den
Werken, sondern aus dem Glauben ist der Mensch gerechtfertigt." (Siehe die schöne
Rede auf den Tod des Kaisers Theodosius § 9; als Beispiel ist hier Abraham heran-
gezogen).
2) Contra epistolam Manichaei § 6 (nach Neander).

Religion.
Gemütes (wie das Christentum viele gekannt hat), sondern er ist
ein religiöses Genie, der nach der von Christus gelehrten, inneren
»Umkehr« strebt, und durch die Episteln des Paulus dieser Wieder-
geburt teilhaftig wurde; er erzählt uns, wie gerade durch Paulus allein
in seine von Leidenschaften zerrissene, durch jahrelange innere Kämpfe
und fruchtlose Studien der völligen Verzweiflung verfallene Seele
plötzlich Licht, Frieden, Seligkeit eindrang (Conf. VIII, 12). Mit vollster
Überzeugung, mit tiefem Verständnis erfasst er die grundlegende Lehre
von der Gnade, der gratia indeclinabilis, wie er sie nennt; sie ist
ihm so sehr die Grundlage seiner Religion, dass er die Benennung als
»Lehre« für sie abweist (De gratia Christi, § 14); und als echter
Jünger des Apostels, zeigt er, dass das Verdienst der Werke durch die
Vorstellung der Gnade ausgeschlossen sei. Schwankender und mit den
indischen Religionslehrern nicht zu vergleichen ist seine Auffassung von
der Bedeutung der Erlösung sowie auch der Erbsünde; denn hier trübt
die jüdische Chronik sein Urteilsvermögen, doch ist das fast neben-
sächlich, da er andererseits den Begriff der Wiedergeburt als den un-
verrückbaren Mittelpunkt des Christentums festhält.1) Und nun kommt
dieser selbe Augustinus und verleugnet fast alle seine innersten Über-
zeugungen! Er, der uns gesagt hat, wie er Gott in seiner eigenen
innersten Seele entdeckt und wie Paulus ihn zur Religion geführt habe,
schreibt nunmehr (in der Hitze des Gefechtes gegen die Manichäer):
»Ich würde das Evangelium nicht glauben, wenn nicht die Autorität
der katholischen Kirche mich nötigte, es zu thun«.2) Hier steht also
für Augustinus die Kirche — von der er selber bezeugte, sie enthalte
wenige wahre Christen — höher als das Evangelium; mit anderen
Worten, die Kirche ist Religion. Im Gegensatz zu Paulus, der aus-
gerufen hatte: ein Jeder sehe zu, wie er auf der Grundlage Christi
baue, erklärt Augustinus: nicht die Seele, sondern der Bischof habe
den Glauben zu bestimmen; er weigert den ernstesten Christen etwas,

1) Namentlich in De peccato originali. Über die Gnade spricht sich Augustinus
besonders deutlich in seinem Brief an Paulinus, Abschnitt 6, aus, wo er gegen
Pelagius polemisiert: »Die Gnade ist nicht eine Frucht der Werke; wäre sie es, so
wäre sie keine Gnade mehr. Denn für Werke wird gegeben, was sie wert sind;
die Gnade aber wird ohne Verdienst gegeben.« In Ambrosius hatte er in dieser
Beziehung einen guten Lehrer gehabt, denn dieser hatte gelehrt: »nicht aus den
Werken, sondern aus dem Glauben ist der Mensch gerechtfertigt.« (Siehe die schöne
Rede auf den Tod des Kaisers Theodosius § 9; als Beispiel ist hier Abraham heran-
gezogen).
2) Contra epistolam Manichaei § 6 (nach Neander).
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[597/0076] Religion. Gemütes (wie das Christentum viele gekannt hat), sondern er ist ein religiöses Genie, der nach der von Christus gelehrten, inneren »Umkehr« strebt, und durch die Episteln des Paulus dieser Wieder- geburt teilhaftig wurde; er erzählt uns, wie gerade durch Paulus allein in seine von Leidenschaften zerrissene, durch jahrelange innere Kämpfe und fruchtlose Studien der völligen Verzweiflung verfallene Seele plötzlich Licht, Frieden, Seligkeit eindrang (Conf. VIII, 12). Mit vollster Überzeugung, mit tiefem Verständnis erfasst er die grundlegende Lehre von der Gnade, der gratia indeclinabilis, wie er sie nennt; sie ist ihm so sehr die Grundlage seiner Religion, dass er die Benennung als »Lehre« für sie abweist (De gratia Christi, § 14); und als echter Jünger des Apostels, zeigt er, dass das Verdienst der Werke durch die Vorstellung der Gnade ausgeschlossen sei. Schwankender und mit den indischen Religionslehrern nicht zu vergleichen ist seine Auffassung von der Bedeutung der Erlösung sowie auch der Erbsünde; denn hier trübt die jüdische Chronik sein Urteilsvermögen, doch ist das fast neben- sächlich, da er andererseits den Begriff der Wiedergeburt als den un- verrückbaren Mittelpunkt des Christentums festhält. 1) Und nun kommt dieser selbe Augustinus und verleugnet fast alle seine innersten Über- zeugungen! Er, der uns gesagt hat, wie er Gott in seiner eigenen innersten Seele entdeckt und wie Paulus ihn zur Religion geführt habe, schreibt nunmehr (in der Hitze des Gefechtes gegen die Manichäer): »Ich würde das Evangelium nicht glauben, wenn nicht die Autorität der katholischen Kirche mich nötigte, es zu thun«. 2) Hier steht also für Augustinus die Kirche — von der er selber bezeugte, sie enthalte wenige wahre Christen — höher als das Evangelium; mit anderen Worten, die Kirche ist Religion. Im Gegensatz zu Paulus, der aus- gerufen hatte: ein Jeder sehe zu, wie er auf der Grundlage Christi baue, erklärt Augustinus: nicht die Seele, sondern der Bischof habe den Glauben zu bestimmen; er weigert den ernstesten Christen etwas, 1) Namentlich in De peccato originali. Über die Gnade spricht sich Augustinus besonders deutlich in seinem Brief an Paulinus, Abschnitt 6, aus, wo er gegen Pelagius polemisiert: »Die Gnade ist nicht eine Frucht der Werke; wäre sie es, so wäre sie keine Gnade mehr. Denn für Werke wird gegeben, was sie wert sind; die Gnade aber wird ohne Verdienst gegeben.« In Ambrosius hatte er in dieser Beziehung einen guten Lehrer gehabt, denn dieser hatte gelehrt: »nicht aus den Werken, sondern aus dem Glauben ist der Mensch gerechtfertigt.« (Siehe die schöne Rede auf den Tod des Kaisers Theodosius § 9; als Beispiel ist hier Abraham heran- gezogen). 2) Contra epistolam Manichaei § 6 (nach Neander).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 597. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/76>, abgerufen am 23.04.2024.