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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Der Kampf.
ihm selber vielleicht vielfach unbewusst, bis an sein Lebensende fort-
gedauert: nicht mehr in der Gestalt eines Ringens zwischen Sinnen-
genuss und Sehnsucht nach edler Reinheit, sondern als Kampf zwischen
einem krass materialistischen, abergläubischen Kirchenglauben und dem
kühnsten Idealismus echter Religion.

Die drei
Haupt-
richtungen.

Ebensowenig wie ich im zweiten Kapitel eine Rechtsgeschichte
zu schreiben unternahm, ebensowenig werde ich mich jetzt erkühnen,
eine Religionsgeschichte zu skizziren. Gelingt es mir, eine lebhafte
und zugleich innerlich richtige Vorstellung des Wesens des auf uns
herabgeerbten Kampfes wachzurufen -- des Kampfes verschiedener
religiöser Ideale um die Vorherrschaft -- so ist mein Zweck erreicht.
Das wirklich Wesentliche ist die Einsicht, dass das historische Christen-
tum -- ein Zwitterwesen von allem Anfang an -- den Kampf in den
Busen des Einzelnen pflanzte. Mit den beiden grossen Gestalten des
Paulus und des Augustinus versuchte ich das bei aller gedrängter
Kürze deutlich zu machen. Damit sind aber die Hauptelemente des
äusseren Kampfes, nämlich des Kampfes in der Kirche, gegeben. "Der
rechte Grund ist des Menschen Herz", sagt Luther. Darum eile
ich jetzt dem Ende zu, indem ich aus der schier unermesslichen
Menge der zum "Kampf in der Religion" gehörigen Thatsachen
einige wenige herausgreife, die besonders geeignet sind, aufklärend zu
wirken. Ich beschränke mich auf die allernotwendigste Ergänzung des
bereits genügend Angedeuteten. Auf diese Weise werden wir, hoffe
ich, einen Überblick gewinnen, der uns bis an die Schwelle des
13. Jahrhunderts führt, wo zwar der äussere Kampf erst recht beginnt,
der innere aber ziemlich ausgetobt hat: fortan stehen sich dann ge-
trennte Anschauungen, Prinzipien, Mächte -- vor allem getrennte
Rassen gegenüber, die aber mit sich selber verhältnismässig einig sind
und wissen, was sie wollen.

In seinen allerallgemeinsten Umrissen betrachtet, besteht der Kampf
in der Kirche während des ersten Jahrtausends zuerst aus einem Kampf
zwischen Osten und Westen, später aus einem solchen zwischen Süden
und Norden. Freilich darf man diese Begriffsbestimmung nicht rein
geographisch verstehen: der "Osten" war ein letztes Aufflackern
hellenischen Geistes und hellenischer Bildung, der "Norden" war das
beginnende Erwachen der germanischen Seele; einen bestimmten Ort,
einen bestimmten Mittelpunkt gab es für diese beiden Kräfte nicht:
der Germane konnte ein italienischer Mönch sein, der Grieche ein

Der Kampf.
ihm selber vielleicht vielfach unbewusst, bis an sein Lebensende fort-
gedauert: nicht mehr in der Gestalt eines Ringens zwischen Sinnen-
genuss und Sehnsucht nach edler Reinheit, sondern als Kampf zwischen
einem krass materialistischen, abergläubischen Kirchenglauben und dem
kühnsten Idealismus echter Religion.

Die drei
Haupt-
richtungen.

Ebensowenig wie ich im zweiten Kapitel eine Rechtsgeschichte
zu schreiben unternahm, ebensowenig werde ich mich jetzt erkühnen,
eine Religionsgeschichte zu skizziren. Gelingt es mir, eine lebhafte
und zugleich innerlich richtige Vorstellung des Wesens des auf uns
herabgeerbten Kampfes wachzurufen — des Kampfes verschiedener
religiöser Ideale um die Vorherrschaft — so ist mein Zweck erreicht.
Das wirklich Wesentliche ist die Einsicht, dass das historische Christen-
tum — ein Zwitterwesen von allem Anfang an — den Kampf in den
Busen des Einzelnen pflanzte. Mit den beiden grossen Gestalten des
Paulus und des Augustinus versuchte ich das bei aller gedrängter
Kürze deutlich zu machen. Damit sind aber die Hauptelemente des
äusseren Kampfes, nämlich des Kampfes in der Kirche, gegeben. »Der
rechte Grund ist des Menschen Herz«, sagt Luther. Darum eile
ich jetzt dem Ende zu, indem ich aus der schier unermesslichen
Menge der zum »Kampf in der Religion« gehörigen Thatsachen
einige wenige herausgreife, die besonders geeignet sind, aufklärend zu
wirken. Ich beschränke mich auf die allernotwendigste Ergänzung des
bereits genügend Angedeuteten. Auf diese Weise werden wir, hoffe
ich, einen Überblick gewinnen, der uns bis an die Schwelle des
13. Jahrhunderts führt, wo zwar der äussere Kampf erst recht beginnt,
der innere aber ziemlich ausgetobt hat: fortan stehen sich dann ge-
trennte Anschauungen, Prinzipien, Mächte — vor allem getrennte
Rassen gegenüber, die aber mit sich selber verhältnismässig einig sind
und wissen, was sie wollen.

In seinen allerallgemeinsten Umrissen betrachtet, besteht der Kampf
in der Kirche während des ersten Jahrtausends zuerst aus einem Kampf
zwischen Osten und Westen, später aus einem solchen zwischen Süden
und Norden. Freilich darf man diese Begriffsbestimmung nicht rein
geographisch verstehen: der »Osten« war ein letztes Aufflackern
hellenischen Geistes und hellenischer Bildung, der »Norden« war das
beginnende Erwachen der germanischen Seele; einen bestimmten Ort,
einen bestimmten Mittelpunkt gab es für diese beiden Kräfte nicht:
der Germane konnte ein italienischer Mönch sein, der Grieche ein

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[600/0079] Der Kampf. ihm selber vielleicht vielfach unbewusst, bis an sein Lebensende fort- gedauert: nicht mehr in der Gestalt eines Ringens zwischen Sinnen- genuss und Sehnsucht nach edler Reinheit, sondern als Kampf zwischen einem krass materialistischen, abergläubischen Kirchenglauben und dem kühnsten Idealismus echter Religion. Ebensowenig wie ich im zweiten Kapitel eine Rechtsgeschichte zu schreiben unternahm, ebensowenig werde ich mich jetzt erkühnen, eine Religionsgeschichte zu skizziren. Gelingt es mir, eine lebhafte und zugleich innerlich richtige Vorstellung des Wesens des auf uns herabgeerbten Kampfes wachzurufen — des Kampfes verschiedener religiöser Ideale um die Vorherrschaft — so ist mein Zweck erreicht. Das wirklich Wesentliche ist die Einsicht, dass das historische Christen- tum — ein Zwitterwesen von allem Anfang an — den Kampf in den Busen des Einzelnen pflanzte. Mit den beiden grossen Gestalten des Paulus und des Augustinus versuchte ich das bei aller gedrängter Kürze deutlich zu machen. Damit sind aber die Hauptelemente des äusseren Kampfes, nämlich des Kampfes in der Kirche, gegeben. »Der rechte Grund ist des Menschen Herz«, sagt Luther. Darum eile ich jetzt dem Ende zu, indem ich aus der schier unermesslichen Menge der zum »Kampf in der Religion« gehörigen Thatsachen einige wenige herausgreife, die besonders geeignet sind, aufklärend zu wirken. Ich beschränke mich auf die allernotwendigste Ergänzung des bereits genügend Angedeuteten. Auf diese Weise werden wir, hoffe ich, einen Überblick gewinnen, der uns bis an die Schwelle des 13. Jahrhunderts führt, wo zwar der äussere Kampf erst recht beginnt, der innere aber ziemlich ausgetobt hat: fortan stehen sich dann ge- trennte Anschauungen, Prinzipien, Mächte — vor allem getrennte Rassen gegenüber, die aber mit sich selber verhältnismässig einig sind und wissen, was sie wollen. In seinen allerallgemeinsten Umrissen betrachtet, besteht der Kampf in der Kirche während des ersten Jahrtausends zuerst aus einem Kampf zwischen Osten und Westen, später aus einem solchen zwischen Süden und Norden. Freilich darf man diese Begriffsbestimmung nicht rein geographisch verstehen: der »Osten« war ein letztes Aufflackern hellenischen Geistes und hellenischer Bildung, der »Norden« war das beginnende Erwachen der germanischen Seele; einen bestimmten Ort, einen bestimmten Mittelpunkt gab es für diese beiden Kräfte nicht: der Germane konnte ein italienischer Mönch sein, der Grieche ein

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 600. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/79>, abgerufen am 29.03.2024.