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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.
vielmehr in ein Nichts sich auflösen. Die Metaphysik ist eben doch
noch eine Physik; Christus dagegen ist Religion. Ihn Logos, Nus,
Demiurgos nennen, mit Sabellius lehren, der Gekreuzigte sei nur
"eine vorübergehende Hypostasierung des Wortes", oder dagegen
mit Paul von Samosata, er sei "nach und nach Gott geworden",
das alles heisst eine lebendige Persönlichkeit in eine Allegorie ver-
wandeln, und zwar in eine der schlimmsten Art, nämlich in eine
abstrakte Allegorie.1) Und wird nun gar diese abstrakte Allegorie in
eine jüdische Wüstenchronik hineingezwängt, mit krassmaterialistischen
Mysterien verschmolzen, zu einem allein seligmachenden Dogma fest-
gebannt, dann mag man wohl froh sein, wenn praktische Menschen
nach drei Jahrhunderten sagten: jetzt ist's aber genug! nunmehr darf
nichts mehr hinzugefügt werden! Man begreift recht gut, wie Ignatius
von Antiochien, über die Authenticität dieses und jenes Schriftwortes
befragt, erwidern konnte: ihm gölten als die unverfälschten Urkunden
Jesu Christi dessen Leben und Tod.2) Wir müssen gestehen, dass
die hellenische Theologie, sehr weitherzig und geistvoll in ihrer Deutung
des Schriftwortes, weit entfernt von der knechtischen Gesinnung west-
licher Theologen, doch geneigt war, diese "unverfälschten Urkunden",
nämlich die thatsächliche Erscheinung Jesu Christi, aus den Augen zu
verlieren.

Doch neben der Kritik ist für die Bewunderung Platz, und zu-
gleich für ein tiefes Bedauern, wenn wir gewahren, wie gerade alles
Grösste und Wahrste, was hier blühte, von Rom verworfen wurde.
Ich will mich nicht ins Theologische hineinstürzen und die Geduld
des Lesers auf die Probe stellen; vielmehr will ich mich mit einem
einzigen Satz des Origenes bescheiden; er wird ahnen lassen, was die

1) Wenn selbst ein so scharfer, intuitionskräftiger Denker wie Schopenhauer
behauptet: "Das Christentum ist eine Allegorie, die einen wahren Gedanken ab-
bildet", so kann man nicht energisch genug einen so offenbaren Irrtum zurück-
weisen. Man könnte alles Allegorische der christlichen Kirche über Bord werfen
und es bliebe die christliche Religion bestehen. Denn sowohl das Leben Christi
wie auch die von ihm gelehrte Umkehr des Willens sind Wirklichkeit, nicht Bild.
Dass weder die Vernunft das, was hier vorliegt, ausdenken, noch der schauende
Verstand es deuten kann, macht es nicht weniger wirklich. Vernunft und Verstand
werden sich freilich in letzter Instanz immer gezwungen finden, allegorisch zu Werke
zu gehen, doch Religion ist nichts, wenn nicht ein unmittelbares Erlebnis.
2) Brief an die Philadelphier, § 8. Freilich hatte Ignatius zu den Füssen des
Apostels Johannes gesessen, ja, nach einer Tradition als Kind den Heiland selbst
gesehen!

Religion.
vielmehr in ein Nichts sich auflösen. Die Metaphysik ist eben doch
noch eine Physik; Christus dagegen ist Religion. Ihn Logos, Nus,
Demiurgos nennen, mit Sabellius lehren, der Gekreuzigte sei nur
»eine vorübergehende Hypostasierung des Wortes«, oder dagegen
mit Paul von Samosata, er sei »nach und nach Gott geworden«,
das alles heisst eine lebendige Persönlichkeit in eine Allegorie ver-
wandeln, und zwar in eine der schlimmsten Art, nämlich in eine
abstrakte Allegorie.1) Und wird nun gar diese abstrakte Allegorie in
eine jüdische Wüstenchronik hineingezwängt, mit krassmaterialistischen
Mysterien verschmolzen, zu einem allein seligmachenden Dogma fest-
gebannt, dann mag man wohl froh sein, wenn praktische Menschen
nach drei Jahrhunderten sagten: jetzt ist’s aber genug! nunmehr darf
nichts mehr hinzugefügt werden! Man begreift recht gut, wie Ignatius
von Antiochien, über die Authenticität dieses und jenes Schriftwortes
befragt, erwidern konnte: ihm gölten als die unverfälschten Urkunden
Jesu Christi dessen Leben und Tod.2) Wir müssen gestehen, dass
die hellenische Theologie, sehr weitherzig und geistvoll in ihrer Deutung
des Schriftwortes, weit entfernt von der knechtischen Gesinnung west-
licher Theologen, doch geneigt war, diese »unverfälschten Urkunden«,
nämlich die thatsächliche Erscheinung Jesu Christi, aus den Augen zu
verlieren.

Doch neben der Kritik ist für die Bewunderung Platz, und zu-
gleich für ein tiefes Bedauern, wenn wir gewahren, wie gerade alles
Grösste und Wahrste, was hier blühte, von Rom verworfen wurde.
Ich will mich nicht ins Theologische hineinstürzen und die Geduld
des Lesers auf die Probe stellen; vielmehr will ich mich mit einem
einzigen Satz des Origenes bescheiden; er wird ahnen lassen, was die

1) Wenn selbst ein so scharfer, intuitionskräftiger Denker wie Schopenhauer
behauptet: »Das Christentum ist eine Allegorie, die einen wahren Gedanken ab-
bildet«, so kann man nicht energisch genug einen so offenbaren Irrtum zurück-
weisen. Man könnte alles Allegorische der christlichen Kirche über Bord werfen
und es bliebe die christliche Religion bestehen. Denn sowohl das Leben Christi
wie auch die von ihm gelehrte Umkehr des Willens sind Wirklichkeit, nicht Bild.
Dass weder die Vernunft das, was hier vorliegt, ausdenken, noch der schauende
Verstand es deuten kann, macht es nicht weniger wirklich. Vernunft und Verstand
werden sich freilich in letzter Instanz immer gezwungen finden, allegorisch zu Werke
zu gehen, doch Religion ist nichts, wenn nicht ein unmittelbares Erlebnis.
2) Brief an die Philadelphier, § 8. Freilich hatte Ignatius zu den Füssen des
Apostels Johannes gesessen, ja, nach einer Tradition als Kind den Heiland selbst
gesehen!
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[607/0086] Religion. vielmehr in ein Nichts sich auflösen. Die Metaphysik ist eben doch noch eine Physik; Christus dagegen ist Religion. Ihn Logos, Nus, Demiurgos nennen, mit Sabellius lehren, der Gekreuzigte sei nur »eine vorübergehende Hypostasierung des Wortes«, oder dagegen mit Paul von Samosata, er sei »nach und nach Gott geworden«, das alles heisst eine lebendige Persönlichkeit in eine Allegorie ver- wandeln, und zwar in eine der schlimmsten Art, nämlich in eine abstrakte Allegorie. 1) Und wird nun gar diese abstrakte Allegorie in eine jüdische Wüstenchronik hineingezwängt, mit krassmaterialistischen Mysterien verschmolzen, zu einem allein seligmachenden Dogma fest- gebannt, dann mag man wohl froh sein, wenn praktische Menschen nach drei Jahrhunderten sagten: jetzt ist’s aber genug! nunmehr darf nichts mehr hinzugefügt werden! Man begreift recht gut, wie Ignatius von Antiochien, über die Authenticität dieses und jenes Schriftwortes befragt, erwidern konnte: ihm gölten als die unverfälschten Urkunden Jesu Christi dessen Leben und Tod. 2) Wir müssen gestehen, dass die hellenische Theologie, sehr weitherzig und geistvoll in ihrer Deutung des Schriftwortes, weit entfernt von der knechtischen Gesinnung west- licher Theologen, doch geneigt war, diese »unverfälschten Urkunden«, nämlich die thatsächliche Erscheinung Jesu Christi, aus den Augen zu verlieren. Doch neben der Kritik ist für die Bewunderung Platz, und zu- gleich für ein tiefes Bedauern, wenn wir gewahren, wie gerade alles Grösste und Wahrste, was hier blühte, von Rom verworfen wurde. Ich will mich nicht ins Theologische hineinstürzen und die Geduld des Lesers auf die Probe stellen; vielmehr will ich mich mit einem einzigen Satz des Origenes bescheiden; er wird ahnen lassen, was die 1) Wenn selbst ein so scharfer, intuitionskräftiger Denker wie Schopenhauer behauptet: »Das Christentum ist eine Allegorie, die einen wahren Gedanken ab- bildet«, so kann man nicht energisch genug einen so offenbaren Irrtum zurück- weisen. Man könnte alles Allegorische der christlichen Kirche über Bord werfen und es bliebe die christliche Religion bestehen. Denn sowohl das Leben Christi wie auch die von ihm gelehrte Umkehr des Willens sind Wirklichkeit, nicht Bild. Dass weder die Vernunft das, was hier vorliegt, ausdenken, noch der schauende Verstand es deuten kann, macht es nicht weniger wirklich. Vernunft und Verstand werden sich freilich in letzter Instanz immer gezwungen finden, allegorisch zu Werke zu gehen, doch Religion ist nichts, wenn nicht ein unmittelbares Erlebnis. 2) Brief an die Philadelphier, § 8. Freilich hatte Ignatius zu den Füssen des Apostels Johannes gesessen, ja, nach einer Tradition als Kind den Heiland selbst gesehen!

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 607. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/86>, abgerufen am 25.04.2024.