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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.
Lehren, sondern um eine Gesinnung, und die Vertreter dieser Ge-
sinnung standen zumeist auf einer bedeutend tieferen Kulturstufe als
die Vertreter des römischen Gedankens;1) erst nach Jahrhunderten
glich sich dieser Unterschied aus. Dazu kam noch ein weiterer Um-
stand. Hatte in dem früheren Kampfe die noch embryonische römische
Kirche die Autorität des Kaisers für ihre Sache zu gewinnen suchen
müssen, so stand sie jetzt als fertig organisierte, mächtige Hierarchie
da, deren unbedingte Autorität Keiner ohne Lebensgefahr anzweifeln
konnte. Kurz, der Kampf ist ein anderer und er wird unter anderen
Bedingungen ausgefochten. Ich sage "ist" und "wird", denn in der
That: der Kampf zwischen Ost und West wurde bereits vor tausend
Jahren beendet, Mohammed erdrückte ihn; das Schisma blieb als
Cenotaph, doch nicht als lebendige Weiterentwickelung; hingegen
dauert der Kampf zwischen Nord und Süd noch unter uns fort und
wirft bedrohliche Schatten auf unsere nächste Zukunft.

Worin diese Empörung des Nordens bestand, habe ich schon
am Schluss des vierten Kapitels und zu Beginn und Ende des sechsten
Kapitels wenigstens in einigen Hauptzügen zu erwähnen Gelegenheit
gehabt.2) Hier bedarf es also nur einer kurzen Ergänzung.

Zunächst die Bemerkung, dass ich den Ausdruck "Norden" ge-
braucht habe, weil das Wort "Germanentum" den Erscheinungen nicht
entsprechen würde oder besten Falles einer tollkühnen Hypothese
gleichkäme. Gegner des staatlichen und kirchlichen Ideals, welches in
Rom eine Verkörperung fand, treffen wir überall und zu allen Zeiten;
tritt die Bewegung erst als sie von Norden herankommt, mächtig auf,
so ist das, weil hier, im Slavokeltogermanentum, ganze Nationen ein-
heitlich dachten und fühlten, während es unten im Chaos ein Zufall
der Geburt war, wenn ein Einzelner Freiheit liebend und innerlich
religiös zur Welt kam. Doch das, was man "protestantische" Ge-
sinnung nennen könnte, findet sich seit den frühesten Zeiten: ist dies
nicht die Atmosphäre, welche die evangelischen Berichte in jeder Zeile
atmen? stellt man sich den Freiheitsapostel des Briefes an die Galater
vor, das Haupt gebeugt, weil ein pontifex maximus auf kurulischem

1) Der Einzelne aus dem barbarischen Norden konnte natürlich weit hervor-
ragen und der Bewohner des Imperiums war gewiss meist ein recht roher Mensch;
doch bezeichnet "Kultur" einen Kollektivbegriff, wir sehen das namentlich bei
Griechenland (S. 70), und da kann man ohne Frage behaupten, dass eine wirkliche
Kultur kaum vor dem 13. Jahrhundert in germanischen Ländern zu entstehen begann.
2) Siehe S. 317, 477 fg., 513 fg.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 39

Religion.
Lehren, sondern um eine Gesinnung, und die Vertreter dieser Ge-
sinnung standen zumeist auf einer bedeutend tieferen Kulturstufe als
die Vertreter des römischen Gedankens;1) erst nach Jahrhunderten
glich sich dieser Unterschied aus. Dazu kam noch ein weiterer Um-
stand. Hatte in dem früheren Kampfe die noch embryonische römische
Kirche die Autorität des Kaisers für ihre Sache zu gewinnen suchen
müssen, so stand sie jetzt als fertig organisierte, mächtige Hierarchie
da, deren unbedingte Autorität Keiner ohne Lebensgefahr anzweifeln
konnte. Kurz, der Kampf ist ein anderer und er wird unter anderen
Bedingungen ausgefochten. Ich sage »ist« und »wird«, denn in der
That: der Kampf zwischen Ost und West wurde bereits vor tausend
Jahren beendet, Mohammed erdrückte ihn; das Schisma blieb als
Cenotaph, doch nicht als lebendige Weiterentwickelung; hingegen
dauert der Kampf zwischen Nord und Süd noch unter uns fort und
wirft bedrohliche Schatten auf unsere nächste Zukunft.

Worin diese Empörung des Nordens bestand, habe ich schon
am Schluss des vierten Kapitels und zu Beginn und Ende des sechsten
Kapitels wenigstens in einigen Hauptzügen zu erwähnen Gelegenheit
gehabt.2) Hier bedarf es also nur einer kurzen Ergänzung.

Zunächst die Bemerkung, dass ich den Ausdruck »Norden« ge-
braucht habe, weil das Wort »Germanentum« den Erscheinungen nicht
entsprechen würde oder besten Falles einer tollkühnen Hypothese
gleichkäme. Gegner des staatlichen und kirchlichen Ideals, welches in
Rom eine Verkörperung fand, treffen wir überall und zu allen Zeiten;
tritt die Bewegung erst als sie von Norden herankommt, mächtig auf,
so ist das, weil hier, im Slavokeltogermanentum, ganze Nationen ein-
heitlich dachten und fühlten, während es unten im Chaos ein Zufall
der Geburt war, wenn ein Einzelner Freiheit liebend und innerlich
religiös zur Welt kam. Doch das, was man »protestantische« Ge-
sinnung nennen könnte, findet sich seit den frühesten Zeiten: ist dies
nicht die Atmosphäre, welche die evangelischen Berichte in jeder Zeile
atmen? stellt man sich den Freiheitsapostel des Briefes an die Galater
vor, das Haupt gebeugt, weil ein pontifex maximus auf kurulischem

1) Der Einzelne aus dem barbarischen Norden konnte natürlich weit hervor-
ragen und der Bewohner des Imperiums war gewiss meist ein recht roher Mensch;
doch bezeichnet »Kultur« einen Kollektivbegriff, wir sehen das namentlich bei
Griechenland (S. 70), und da kann man ohne Frage behaupten, dass eine wirkliche
Kultur kaum vor dem 13. Jahrhundert in germanischen Ländern zu entstehen begann.
2) Siehe S. 317, 477 fg., 513 fg.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 39
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[609/0088] Religion. Lehren, sondern um eine Gesinnung, und die Vertreter dieser Ge- sinnung standen zumeist auf einer bedeutend tieferen Kulturstufe als die Vertreter des römischen Gedankens; 1) erst nach Jahrhunderten glich sich dieser Unterschied aus. Dazu kam noch ein weiterer Um- stand. Hatte in dem früheren Kampfe die noch embryonische römische Kirche die Autorität des Kaisers für ihre Sache zu gewinnen suchen müssen, so stand sie jetzt als fertig organisierte, mächtige Hierarchie da, deren unbedingte Autorität Keiner ohne Lebensgefahr anzweifeln konnte. Kurz, der Kampf ist ein anderer und er wird unter anderen Bedingungen ausgefochten. Ich sage »ist« und »wird«, denn in der That: der Kampf zwischen Ost und West wurde bereits vor tausend Jahren beendet, Mohammed erdrückte ihn; das Schisma blieb als Cenotaph, doch nicht als lebendige Weiterentwickelung; hingegen dauert der Kampf zwischen Nord und Süd noch unter uns fort und wirft bedrohliche Schatten auf unsere nächste Zukunft. Worin diese Empörung des Nordens bestand, habe ich schon am Schluss des vierten Kapitels und zu Beginn und Ende des sechsten Kapitels wenigstens in einigen Hauptzügen zu erwähnen Gelegenheit gehabt. 2) Hier bedarf es also nur einer kurzen Ergänzung. Zunächst die Bemerkung, dass ich den Ausdruck »Norden« ge- braucht habe, weil das Wort »Germanentum« den Erscheinungen nicht entsprechen würde oder besten Falles einer tollkühnen Hypothese gleichkäme. Gegner des staatlichen und kirchlichen Ideals, welches in Rom eine Verkörperung fand, treffen wir überall und zu allen Zeiten; tritt die Bewegung erst als sie von Norden herankommt, mächtig auf, so ist das, weil hier, im Slavokeltogermanentum, ganze Nationen ein- heitlich dachten und fühlten, während es unten im Chaos ein Zufall der Geburt war, wenn ein Einzelner Freiheit liebend und innerlich religiös zur Welt kam. Doch das, was man »protestantische« Ge- sinnung nennen könnte, findet sich seit den frühesten Zeiten: ist dies nicht die Atmosphäre, welche die evangelischen Berichte in jeder Zeile atmen? stellt man sich den Freiheitsapostel des Briefes an die Galater vor, das Haupt gebeugt, weil ein pontifex maximus auf kurulischem 1) Der Einzelne aus dem barbarischen Norden konnte natürlich weit hervor- ragen und der Bewohner des Imperiums war gewiss meist ein recht roher Mensch; doch bezeichnet »Kultur« einen Kollektivbegriff, wir sehen das namentlich bei Griechenland (S. 70), und da kann man ohne Frage behaupten, dass eine wirkliche Kultur kaum vor dem 13. Jahrhundert in germanischen Ländern zu entstehen begann. 2) Siehe S. 317, 477 fg., 513 fg. Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 39

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 609. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/88>, abgerufen am 25.04.2024.