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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.

Bisher war ich gezwungen, diesen Kampf gewissermassen a rebours
zu zeichnen, eben wegen der Zersplitterung und Inkonsequenz der
nordischen Männer ihrem einheitlichen Gegner gegenüber. Ausserdem
waren es wiederum natürlich nur Andeutungen: Fakta sind wie die
Mücken; sobald ein Licht angezündet ist, fliegen sie von selbst zu
Tausenden zu den Fenstern herein. Darum will ich auch hier, zur
Ergänzung des schon Angedeuteten über den Kampf zwischen Nord und
Süd, nur zwei Männer als Beispiele herausgreifen: einen Realpolitiker
und einen Idealpolitiker, beide eifrige Theologen in ihren Mussestunden
und begeisterte Kinder der römischen Kirche allezeit; ich meine Karl
den Grossen und Dante.1)

Wenn ein Mann sich ein Recht erworben hatte, auf Rom Ein-Karl
der Grosse

fluss zu nehmen, so war es Karl; er hätte das Papsttum vernichten
können, er hat es gerettet und auf tausend Jahre inthronisiert; er --
wie Niemand vor ihm oder nach ihm -- hätte die Macht besessen,
wenigstens die Deutschen definitiv von Rom zu scheiden, er that im
Gegenteil das, was das Imperium in seinem höchsten Glanze nicht ver-
mocht hatte, und verleibte sie samt und sonders einem "heiligen" und
"römischen" Reiche ein. Dieser so verhängnisvoll eifrige Römling
war aber dennoch ein guter deutscher Mann und nichts lag ihm mehr
am Herzen als diese Kirche, die er als Ideal so leidenschaftlich hoch
schätzte, von oben bis unten zu reformieren und aus den Klauen
des Heidentums loszureissen. An den Papst richtet er ziemlich grobe
Briefe, in denen er über alles Mögliche polemisiert und kirchlich
anerkannte Konzilien ineptissimae synodi nennt; und von dem
apostolischen Stuhle aus erstreckt sich seine Sorgfalt bis zu der Unter-
suchung, wie viele Konkubinen sich die Landpfarrer halten! Namentlich
sorgt er mit Eifer dafür, dass die heilige Schrift, welche unter dem
Einfluss Rom's fast ganz in Vergessenheit geraten war, den Priestern
oder zumindest den Bischöfen von Neuem bekannt werde; er wacht

1) Dante wurde im Jahre 1265 geboren, also innerhalb des grossen Grenz-
jahrhunderts; ausser dieser formellen Berechtigung, ihn hier zu nennen, ergiebt sich
eine weitere aus dem Umstand, dass das Auge dieses grossen Poeten nicht allein
voraus-, sondern auch zurückschaute. Dante ist mindestens eben so sehr ein Ende
wie ein Anfang. Hebt eine neue Zeit von ihm an, so liegt das nicht zum wenigsten
darin, dass er eine alte zum Abschluss gebracht hat; namentlich in Bezug auf seine
Anschauungen über das Verhältnis zwischen Staat und Kirche ist er ganz und gar
in karlinisch-ottonischen Anschauungen und Träumereien befangen und bleibt eigen-
tümlich blind für die grosse politische Umwälzung Europa's, die um ihn herum
so stürmisch sich ankündet.
Religion.

Bisher war ich gezwungen, diesen Kampf gewissermassen à rebours
zu zeichnen, eben wegen der Zersplitterung und Inkonsequenz der
nordischen Männer ihrem einheitlichen Gegner gegenüber. Ausserdem
waren es wiederum natürlich nur Andeutungen: Fakta sind wie die
Mücken; sobald ein Licht angezündet ist, fliegen sie von selbst zu
Tausenden zu den Fenstern herein. Darum will ich auch hier, zur
Ergänzung des schon Angedeuteten über den Kampf zwischen Nord und
Süd, nur zwei Männer als Beispiele herausgreifen: einen Realpolitiker
und einen Idealpolitiker, beide eifrige Theologen in ihren Mussestunden
und begeisterte Kinder der römischen Kirche allezeit; ich meine Karl
den Grossen und Dante.1)

Wenn ein Mann sich ein Recht erworben hatte, auf Rom Ein-Karl
der Grosse

fluss zu nehmen, so war es Karl; er hätte das Papsttum vernichten
können, er hat es gerettet und auf tausend Jahre inthronisiert; er —
wie Niemand vor ihm oder nach ihm — hätte die Macht besessen,
wenigstens die Deutschen definitiv von Rom zu scheiden, er that im
Gegenteil das, was das Imperium in seinem höchsten Glanze nicht ver-
mocht hatte, und verleibte sie samt und sonders einem »heiligen« und
»römischen« Reiche ein. Dieser so verhängnisvoll eifrige Römling
war aber dennoch ein guter deutscher Mann und nichts lag ihm mehr
am Herzen als diese Kirche, die er als Ideal so leidenschaftlich hoch
schätzte, von oben bis unten zu reformieren und aus den Klauen
des Heidentums loszureissen. An den Papst richtet er ziemlich grobe
Briefe, in denen er über alles Mögliche polemisiert und kirchlich
anerkannte Konzilien ineptissimae synodi nennt; und von dem
apostolischen Stuhle aus erstreckt sich seine Sorgfalt bis zu der Unter-
suchung, wie viele Konkubinen sich die Landpfarrer halten! Namentlich
sorgt er mit Eifer dafür, dass die heilige Schrift, welche unter dem
Einfluss Rom’s fast ganz in Vergessenheit geraten war, den Priestern
oder zumindest den Bischöfen von Neuem bekannt werde; er wacht

1) Dante wurde im Jahre 1265 geboren, also innerhalb des grossen Grenz-
jahrhunderts; ausser dieser formellen Berechtigung, ihn hier zu nennen, ergiebt sich
eine weitere aus dem Umstand, dass das Auge dieses grossen Poeten nicht allein
voraus-, sondern auch zurückschaute. Dante ist mindestens eben so sehr ein Ende
wie ein Anfang. Hebt eine neue Zeit von ihm an, so liegt das nicht zum wenigsten
darin, dass er eine alte zum Abschluss gebracht hat; namentlich in Bezug auf seine
Anschauungen über das Verhältnis zwischen Staat und Kirche ist er ganz und gar
in karlinisch-ottonischen Anschauungen und Träumereien befangen und bleibt eigen-
tümlich blind für die grosse politische Umwälzung Europa’s, die um ihn herum
so stürmisch sich ankündet.
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[617/0096] Religion. Bisher war ich gezwungen, diesen Kampf gewissermassen à rebours zu zeichnen, eben wegen der Zersplitterung und Inkonsequenz der nordischen Männer ihrem einheitlichen Gegner gegenüber. Ausserdem waren es wiederum natürlich nur Andeutungen: Fakta sind wie die Mücken; sobald ein Licht angezündet ist, fliegen sie von selbst zu Tausenden zu den Fenstern herein. Darum will ich auch hier, zur Ergänzung des schon Angedeuteten über den Kampf zwischen Nord und Süd, nur zwei Männer als Beispiele herausgreifen: einen Realpolitiker und einen Idealpolitiker, beide eifrige Theologen in ihren Mussestunden und begeisterte Kinder der römischen Kirche allezeit; ich meine Karl den Grossen und Dante. 1) Wenn ein Mann sich ein Recht erworben hatte, auf Rom Ein- fluss zu nehmen, so war es Karl; er hätte das Papsttum vernichten können, er hat es gerettet und auf tausend Jahre inthronisiert; er — wie Niemand vor ihm oder nach ihm — hätte die Macht besessen, wenigstens die Deutschen definitiv von Rom zu scheiden, er that im Gegenteil das, was das Imperium in seinem höchsten Glanze nicht ver- mocht hatte, und verleibte sie samt und sonders einem »heiligen« und »römischen« Reiche ein. Dieser so verhängnisvoll eifrige Römling war aber dennoch ein guter deutscher Mann und nichts lag ihm mehr am Herzen als diese Kirche, die er als Ideal so leidenschaftlich hoch schätzte, von oben bis unten zu reformieren und aus den Klauen des Heidentums loszureissen. An den Papst richtet er ziemlich grobe Briefe, in denen er über alles Mögliche polemisiert und kirchlich anerkannte Konzilien ineptissimae synodi nennt; und von dem apostolischen Stuhle aus erstreckt sich seine Sorgfalt bis zu der Unter- suchung, wie viele Konkubinen sich die Landpfarrer halten! Namentlich sorgt er mit Eifer dafür, dass die heilige Schrift, welche unter dem Einfluss Rom’s fast ganz in Vergessenheit geraten war, den Priestern oder zumindest den Bischöfen von Neuem bekannt werde; er wacht Karl der Grosse 1) Dante wurde im Jahre 1265 geboren, also innerhalb des grossen Grenz- jahrhunderts; ausser dieser formellen Berechtigung, ihn hier zu nennen, ergiebt sich eine weitere aus dem Umstand, dass das Auge dieses grossen Poeten nicht allein voraus-, sondern auch zurückschaute. Dante ist mindestens eben so sehr ein Ende wie ein Anfang. Hebt eine neue Zeit von ihm an, so liegt das nicht zum wenigsten darin, dass er eine alte zum Abschluss gebracht hat; namentlich in Bezug auf seine Anschauungen über das Verhältnis zwischen Staat und Kirche ist er ganz und gar in karlinisch-ottonischen Anschauungen und Träumereien befangen und bleibt eigen- tümlich blind für die grosse politische Umwälzung Europa’s, die um ihn herum so stürmisch sich ankündet.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 617. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/96>, abgerufen am 20.04.2024.