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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.

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blos Abbild eines idealen allgemeinen Gegenstands, p2c_736.002
oder der innern gesetzlichen Geistesform sey. Dieses Bewußtseyn p2c_736.003
erwacht erst in dem Menschen, bey zunehmender p2c_736.004
philosophischer Cultur, wenn er im Besitz des logos ist. p2c_736.005
Daher findet sich die Allegorie bey den Alten mehr in den p2c_736.006
Philosophieen, z. B. beym Plato. Daher haben die p2c_736.007
neuern an die Stelle der Mythologie den Begriff p2c_736.008
Allegorie treten lassen. Dieser Unterschied im Sprachgebrauche p2c_736.009
und in der Culturgeschichte zwischen Mythologie p2c_736.010
und Allegorie setzt den Künstler in große Verlegenheit. p2c_736.011
Nach den im §. angegebenen Regeln sollen die poetischen p2c_736.012
sinnbildlichen Gegenstände sowohl sinnlich lebendig p2c_736.013
seyn, als auch allgemeine Beziehungen auf die Geistesideen p2c_736.014
haben. Und dieses zusammen würde die Theorie Allegorie p2c_736.015
im guten Sinne nennen. Die Praxis der Dichter p2c_736.016
hat aber zwischen den beyden Erfordernissen der Jndividualität p2c_736.017
und Universalität einen Gegensatz gemacht, und p2c_736.018
anstatt zwischen diesen beyden Polen zu schweben, sich einem p2c_736.019
oder dem andern mehr genähert, wodurch sie fehlerhaft geworden p2c_736.020
ist. Die Mythologischen Dichter der Alten, p2c_736.021
(wenn sie nicht etwa als historische Dichter zugleich anzusehen p2c_736.022
sind, z. B. Aeschylus, sondern blos die Darstellung p2c_736.023
der Mythen auch ohne interessante Handlung beabsichtigen, p2c_736.024
wie z. B. Hesiodus, Ovid,) haben wenig Werth. p2c_736.025
Warum? Weil man sie als allegorische Dichter ansehn p2c_736.026
muß. Gleichwohl fehlt ihnen ein Haupterforderniß zur guten p2c_736.027
Allegorie, die ganz durchgeführten allgemeinen Beziehungen. p2c_736.028
Sie stellten die Mythologie dar, wie sie dieselbe

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Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804, S. 736. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804/260>, abgerufen am 13.05.2024.