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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.

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welche das allegorische Gedicht bedarf, damit man den höhern p2c_745.002
Sinn errathe. Die mythologischen Gedichte der Alten p2c_745.003
sind Aggregate von Fabeln ohne alle nähere Verbindung p2c_745.004
zu einem höhern Sinne. Hiermit verlangen wir nicht, daß p2c_745.005
ein Palaephatus de Incredibilibus uns vordemonstrire, p2c_745.006
wie bey Entstehung dieser Fabeln alles natürlich zugegangen p2c_745.007
sey. Eine solche Einsicht in die gesammte Mythologie p2c_745.008
mag die Aufgeklärten unserer Tage interessiren, denen p2c_745.009
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vorschwebt, die wohl selbst den göttlichen Helden p2c_745.011
der Bibel sehr zu ehren glauben, wenn sie ihn den Sokrates p2c_745.012
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mußten, die mythologischen Begebenheiten grade so und p2c_745.015
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Mährchenhaften, hatten keine Uebersicht des Ganzen, p2c_745.021
konnten also nur Data zu einem künftigen allegorischen Gedicht p2c_745.022
liefern. So muß man z. B. des Hesiodus Theogonie, p2c_745.023
die historischen Hymnendichter u. s. w. ansehn. Ovids p2c_745.024
Metamorphosen
sind ein wunderbares Phänomen. Der p2c_745.025
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für die Römische Dichtkunst zu genialisch. Daß der römische p2c_745.027
Dichter bey einzelnen Stellen den Hesiodus, Theokrit, p2c_745.028
Callimachus vor den Augen gehabt hat, ist bekannt.

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Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804, S. 745. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804/269>, abgerufen am 12.05.2024.