Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.

Bild:
<< vorherige Seite

p2c_775.001
und die Sinnlichkeit hat Ekel am Genusse. Da erwacht ein p2c_775.002
inneres Licht im Menschen, und zeigt ihm eine höhere p2c_775.003
göttliche allgemeine Bestimmung. Der Mensch wird auf p2c_775.004
den Himmel verwiesen, der Sorge für das irdische Glück, p2c_775.005
das ohnedieß ein unvollendetes Gebäude bleibt, entladen. p2c_775.006
Von nun an muß die Poesie einen andern Charakter bekommen. p2c_775.007
Dies geschah mit Verbreitung des Christenthums. p2c_775.008
Mit dem Christenthum beginnt die neue Poesie. Durch p2c_775.009
das Christenthum verlernte es der Mensch, die Lebendigkeit p2c_775.010
des natürlichen individuellen Daseyns, als den höchsten p2c_775.011
Zweck anzusehn. Er ward zu hochgesinnt, alle Jdealität p2c_775.012
in der äußern objektiven sichtbaren Natur zu suchen. p2c_775.013
Er kehrte den Blick nach Jnnen, wo sich ihm ein neuer p2c_775.014
bisher unbekannter Quell geistigen unsichtbaren Lebens öffnete. p2c_775.015
Wenn der Schatten des Achills in der Odyssee lieber p2c_775.016
auf Erden der Knecht eines Bauers seyn wollte, als in der p2c_775.017
Unterwelt ein König, so dachte sich der Christ dagegen nichts p2c_775.018
herrlicheres als im Himmel ein Königthum. Er verlor also p2c_775.019
die bestimmten Conture der Dinge aus den Augen. Das p2c_775.020
Prinzip der Poesie war nicht mehr Nachahmung einer p2c_775.021
vergangenen Naturwirklichkeit, wie zu den Zeiten des p2c_775.022
Aristoteles, sondern Darstellung einer idealenkünstlichen p2c_775.023
unsichtbaren
Welt. Daher will schon Vida p2c_775.024
einen Dichter erziehn, während Horaz ihn nur bilden p2c_775.025
wollte. Wie die alte Poesie, (die griechische oder p2c_775.026
mythologische) nicht die Gegenwart schilderte, sondern den p2c_775.027
Blick um eine ganze Epoche rückwärts in einen Naturstand p2c_775.028
äußerlich idealer Gestalten warf, eben so zeigt die neue,

p2c_775.001
und die Sinnlichkeit hat Ekel am Genusse. Da erwacht ein p2c_775.002
inneres Licht im Menschen, und zeigt ihm eine höhere p2c_775.003
göttliche allgemeine Bestimmung. Der Mensch wird auf p2c_775.004
den Himmel verwiesen, der Sorge für das irdische Glück, p2c_775.005
das ohnedieß ein unvollendetes Gebäude bleibt, entladen. p2c_775.006
Von nun an muß die Poesie einen andern Charakter bekommen. p2c_775.007
Dies geschah mit Verbreitung des Christenthums. p2c_775.008
Mit dem Christenthum beginnt die neue Poesie. Durch p2c_775.009
das Christenthum verlernte es der Mensch, die Lebendigkeit p2c_775.010
des natürlichen individuellen Daseyns, als den höchsten p2c_775.011
Zweck anzusehn. Er ward zu hochgesinnt, alle Jdealität p2c_775.012
in der äußern objektiven sichtbaren Natur zu suchen. p2c_775.013
Er kehrte den Blick nach Jnnen, wo sich ihm ein neuer p2c_775.014
bisher unbekannter Quell geistigen unsichtbaren Lebens öffnete. p2c_775.015
Wenn der Schatten des Achills in der Odyssee lieber p2c_775.016
auf Erden der Knecht eines Bauers seyn wollte, als in der p2c_775.017
Unterwelt ein König, so dachte sich der Christ dagegen nichts p2c_775.018
herrlicheres als im Himmel ein Königthum. Er verlor also p2c_775.019
die bestimmten Conture der Dinge aus den Augen. Das p2c_775.020
Prinzip der Poesie war nicht mehr Nachahmung einer p2c_775.021
vergangenen Naturwirklichkeit, wie zu den Zeiten des p2c_775.022
Aristoteles, sondern Darstellung einer idealenkünstlichen p2c_775.023
unsichtbaren
Welt. Daher will schon Vida p2c_775.024
einen Dichter erziehn, während Horaz ihn nur bilden p2c_775.025
wollte. Wie die alte Poesie, (die griechische oder p2c_775.026
mythologische) nicht die Gegenwart schilderte, sondern den p2c_775.027
Blick um eine ganze Epoche rückwärts in einen Naturstand p2c_775.028
äußerlich idealer Gestalten warf, eben so zeigt die neue,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0299" n="775"/><lb n="p2c_775.001"/>
und die Sinnlichkeit hat Ekel am Genusse. Da erwacht ein <lb n="p2c_775.002"/>
inneres <hi rendition="#g">Licht</hi> im Menschen, und zeigt ihm eine höhere <lb n="p2c_775.003"/>
göttliche allgemeine Bestimmung. Der Mensch wird auf <lb n="p2c_775.004"/>
den Himmel verwiesen, der Sorge für das irdische Glück, <lb n="p2c_775.005"/>
das ohnedieß ein unvollendetes Gebäude bleibt, entladen. <lb n="p2c_775.006"/>
Von nun an muß die Poesie einen andern Charakter bekommen. <lb n="p2c_775.007"/>
Dies geschah mit Verbreitung des Christenthums. <lb n="p2c_775.008"/>
Mit dem Christenthum beginnt die <hi rendition="#g">neue</hi> Poesie. Durch <lb n="p2c_775.009"/>
das Christenthum verlernte es der Mensch, die Lebendigkeit <lb n="p2c_775.010"/>
des natürlichen individuellen Daseyns, als den höchsten <lb n="p2c_775.011"/>
Zweck anzusehn. Er ward zu hochgesinnt, alle <hi rendition="#g">Jdealität</hi> <lb n="p2c_775.012"/>
in der <hi rendition="#g">äußern</hi> objektiven sichtbaren Natur zu suchen. <lb n="p2c_775.013"/>
Er kehrte den Blick nach Jnnen, wo sich ihm ein neuer <lb n="p2c_775.014"/>
bisher unbekannter Quell geistigen unsichtbaren Lebens öffnete. <lb n="p2c_775.015"/>
Wenn der Schatten des Achills in der Odyssee lieber <lb n="p2c_775.016"/>
auf Erden der Knecht eines Bauers seyn wollte, als in der <lb n="p2c_775.017"/>
Unterwelt ein König, so dachte sich der Christ dagegen nichts <lb n="p2c_775.018"/>
herrlicheres als im Himmel ein Königthum. Er verlor also <lb n="p2c_775.019"/>
die bestimmten Conture der Dinge aus den Augen. Das <lb n="p2c_775.020"/>
Prinzip der Poesie war nicht mehr <hi rendition="#g">Nachahmung</hi> einer <lb n="p2c_775.021"/>
vergangenen <hi rendition="#g">Naturwirklichkeit,</hi> wie zu den Zeiten des <lb n="p2c_775.022"/>
Aristoteles, sondern <hi rendition="#g">Darstellung</hi> einer <hi rendition="#g">idealenkünstlichen <lb n="p2c_775.023"/>
unsichtbaren</hi> Welt. Daher will schon <hi rendition="#g">Vida</hi> <lb n="p2c_775.024"/>
einen Dichter <hi rendition="#g">erziehn,</hi> während <hi rendition="#g">Horaz</hi> ihn nur <hi rendition="#g">bilden</hi> <lb n="p2c_775.025"/>
wollte. Wie die <hi rendition="#g">alte Poesie,</hi> (die griechische oder <lb n="p2c_775.026"/>
mythologische) nicht die Gegenwart schilderte, sondern den <lb n="p2c_775.027"/>
Blick um eine ganze Epoche rückwärts in einen Naturstand <lb n="p2c_775.028"/>
äußerlich idealer Gestalten warf, eben so zeigt die <hi rendition="#g">neue,</hi> </p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[775/0299] p2c_775.001 und die Sinnlichkeit hat Ekel am Genusse. Da erwacht ein p2c_775.002 inneres Licht im Menschen, und zeigt ihm eine höhere p2c_775.003 göttliche allgemeine Bestimmung. Der Mensch wird auf p2c_775.004 den Himmel verwiesen, der Sorge für das irdische Glück, p2c_775.005 das ohnedieß ein unvollendetes Gebäude bleibt, entladen. p2c_775.006 Von nun an muß die Poesie einen andern Charakter bekommen. p2c_775.007 Dies geschah mit Verbreitung des Christenthums. p2c_775.008 Mit dem Christenthum beginnt die neue Poesie. Durch p2c_775.009 das Christenthum verlernte es der Mensch, die Lebendigkeit p2c_775.010 des natürlichen individuellen Daseyns, als den höchsten p2c_775.011 Zweck anzusehn. Er ward zu hochgesinnt, alle Jdealität p2c_775.012 in der äußern objektiven sichtbaren Natur zu suchen. p2c_775.013 Er kehrte den Blick nach Jnnen, wo sich ihm ein neuer p2c_775.014 bisher unbekannter Quell geistigen unsichtbaren Lebens öffnete. p2c_775.015 Wenn der Schatten des Achills in der Odyssee lieber p2c_775.016 auf Erden der Knecht eines Bauers seyn wollte, als in der p2c_775.017 Unterwelt ein König, so dachte sich der Christ dagegen nichts p2c_775.018 herrlicheres als im Himmel ein Königthum. Er verlor also p2c_775.019 die bestimmten Conture der Dinge aus den Augen. Das p2c_775.020 Prinzip der Poesie war nicht mehr Nachahmung einer p2c_775.021 vergangenen Naturwirklichkeit, wie zu den Zeiten des p2c_775.022 Aristoteles, sondern Darstellung einer idealenkünstlichen p2c_775.023 unsichtbaren Welt. Daher will schon Vida p2c_775.024 einen Dichter erziehn, während Horaz ihn nur bilden p2c_775.025 wollte. Wie die alte Poesie, (die griechische oder p2c_775.026 mythologische) nicht die Gegenwart schilderte, sondern den p2c_775.027 Blick um eine ganze Epoche rückwärts in einen Naturstand p2c_775.028 äußerlich idealer Gestalten warf, eben so zeigt die neue,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804/299
Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804, S. 775. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik02_1804/299>, abgerufen am 12.05.2024.