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Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889].

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Doctor sehr bald geschmacklos. Wozu in aller Welt
dieses doktrinäre Geschwafele! Er erhob sich lang-
sam, nachlässig .. zog die Augenbrauen dicht über
der Nasenwurzel zusammen .. machte ein sehr ver-
ächtliches Gesicht ... und suchte nach dem Messerchen,
mit welchem er seine Fingernägel pflegte.

Wenn er gehen wollte, mußte er übrigens bald
aufbrechen. Aber warum sollte er denn gehen? Und
doch .. mein Gott! -- warum sollte er denn
nicht gehen? Warum nicht? Man thut so Vieles
in dieser Welt, weil man absolut nicht weiß, warum
man es nicht thun sollte .. Und zudem: es war
ja auch schon zu spät, sich noch entschuldigen zu
lassen. Getröstet von dem Gedanken, daß er ohne
Verletzung des "gesellschaftlichen Anstandes" jetzt
nicht mehr ausbleiben konnte, machte sich Adam auf
den Weg zu Irmers. Er pfiff das unsterblich
schöne "Komm herab, o Madonna Theresa --"
leise vor sich hin, löste es einige Male mit Motiven
aus Wagners "Fliegendem Holländer" und "Sieg-
fried" ab .. und schluckte mit verhaltener Wollust die
schweren, schwülen Lüfte des zusammendämmernden,
letzten Maiabends ein. Adam dachte nicht mehr an sich
und vergaß, daß er nicht wußte, wer er war ...
was er von der Welt ... und was diese Welt von
ihm wollte. --




Doctor ſehr bald geſchmacklos. Wozu in aller Welt
dieſes doktrinäre Geſchwafele! Er erhob ſich lang-
ſam, nachläſſig .. zog die Augenbrauen dicht über
der Naſenwurzel zuſammen .. machte ein ſehr ver-
ächtliches Geſicht ... und ſuchte nach dem Meſſerchen,
mit welchem er ſeine Fingernägel pflegte.

Wenn er gehen wollte, mußte er übrigens bald
aufbrechen. Aber warum ſollte er denn gehen? Und
doch .. mein Gott! — warum ſollte er denn
nicht gehen? Warum nicht? Man thut ſo Vieles
in dieſer Welt, weil man abſolut nicht weiß, warum
man es nicht thun ſollte .. Und zudem: es war
ja auch ſchon zu ſpät, ſich noch entſchuldigen zu
laſſen. Getröſtet von dem Gedanken, daß er ohne
Verletzung des „geſellſchaftlichen Anſtandes“ jetzt
nicht mehr ausbleiben konnte, machte ſich Adam auf
den Weg zu Irmers. Er pfiff das unſterblich
ſchöne „Komm herab, o Madonna Thereſa —“
leiſe vor ſich hin, löſte es einige Male mit Motiven
aus Wagners „Fliegendem Holländer“ und „Sieg-
fried“ ab .. und ſchluckte mit verhaltener Wolluſt die
ſchweren, ſchwülen Lüfte des zuſammendämmernden,
letzten Maiabends ein. Adam dachte nicht mehr an ſich
und vergaß, daß er nicht wußte, wer er war ...
was er von der Welt ... und was dieſe Welt von
ihm wollte. —



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[203/0211] Doctor ſehr bald geſchmacklos. Wozu in aller Welt dieſes doktrinäre Geſchwafele! Er erhob ſich lang- ſam, nachläſſig .. zog die Augenbrauen dicht über der Naſenwurzel zuſammen .. machte ein ſehr ver- ächtliches Geſicht ... und ſuchte nach dem Meſſerchen, mit welchem er ſeine Fingernägel pflegte. Wenn er gehen wollte, mußte er übrigens bald aufbrechen. Aber warum ſollte er denn gehen? Und doch .. mein Gott! — warum ſollte er denn nicht gehen? Warum nicht? Man thut ſo Vieles in dieſer Welt, weil man abſolut nicht weiß, warum man es nicht thun ſollte .. Und zudem: es war ja auch ſchon zu ſpät, ſich noch entſchuldigen zu laſſen. Getröſtet von dem Gedanken, daß er ohne Verletzung des „geſellſchaftlichen Anſtandes“ jetzt nicht mehr ausbleiben konnte, machte ſich Adam auf den Weg zu Irmers. Er pfiff das unſterblich ſchöne „Komm herab, o Madonna Thereſa —“ leiſe vor ſich hin, löſte es einige Male mit Motiven aus Wagners „Fliegendem Holländer“ und „Sieg- fried“ ab .. und ſchluckte mit verhaltener Wolluſt die ſchweren, ſchwülen Lüfte des zuſammendämmernden, letzten Maiabends ein. Adam dachte nicht mehr an ſich und vergaß, daß er nicht wußte, wer er war ... was er von der Welt ... und was dieſe Welt von ihm wollte. —

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Zitationshilfe: Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889], S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889/211>, abgerufen am 28.03.2024.