Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite
Sechstes Capitel.

161. Die Kammer, einmahl durch Wahl vereinigt,
bleibe in dieser Frist (sechs Jahre sind keine zu lange Zeit)
fernerem Wechsel ihrer Mitglieder möglichst fremd; nur die
ganze wird aufgelöst, oder stirbt, nachdem ihre Zeit erfüllt
ist, natürlichen Todes. Dem Zusammen-Einwohnen in
den Geschäften, der Bildung politischer Charaktere, der
nothwendigen Unwiderruflichkeit der einmahl erfolgten Wahl,
mithin der Unabhängigkeit der Kammer, treten die verschie-
denen Erfindungen, welche den Wechsel nie enden lassen,
störend entgegen: Ersatzmänner, theilweise Er-
neuerungen, Verzichtung bis auf Wieder-
wahl
.

Die Ersatzmänner (suppleans), auch Stellvertreter ge-
nannt, sind eine Erfindung von 1791 1). Sie mehren
die Zahl der müssigen, auf dem Anstand stehenden Politi-
ker, schwächen die Verpflichtung des Deputirten, der viel-
leicht zur gefährlichen Zeit aus der Reihe springt und dar-
um sicherlich kein Recht behalten darf, wieder einzusprin-
gen, wenn sein Ersatzmann stirbt; sie führen Wandel und
Zufall in die Kammer ein, und lassen das Urtheil von der-
selben nicht zur Reife kommen.

Mit vollem Rechte hat man in Frankreich seit der Juli-
Revolution die der Verfassung von 1795 abgelernte Af-
terweisheit der jährlichen Drittel-Erneuerung (Art. 53.),
von Ludwig XVIII. in eine Fünftel-Erneuerung (Art. 37.)
umgestaltet, ausgestoßen. Sollte sich wirklich im Groß-
herzogthum Baden die jährliche Viertels-Auslosung und
Erneuerung der auf acht Jahre gewählten Kammer so be-
währt haben, daß sich ein hinlänglicher Grund zur Nach-
bildung für das Königreich Sachsen im Jahre 1831. ergäbe?
Soll man den Zufall suchen und die Wahlunruhe? Soll
man manchen schwächeren Charakter zum Jagen nach eit-

Sechstes Capitel.

161. Die Kammer, einmahl durch Wahl vereinigt,
bleibe in dieſer Friſt (ſechs Jahre ſind keine zu lange Zeit)
fernerem Wechſel ihrer Mitglieder moͤglichſt fremd; nur die
ganze wird aufgeloͤst, oder ſtirbt, nachdem ihre Zeit erfuͤllt
iſt, natuͤrlichen Todes. Dem Zuſammen-Einwohnen in
den Geſchaͤften, der Bildung politiſcher Charaktere, der
nothwendigen Unwiderruflichkeit der einmahl erfolgten Wahl,
mithin der Unabhaͤngigkeit der Kammer, treten die verſchie-
denen Erfindungen, welche den Wechſel nie enden laſſen,
ſtoͤrend entgegen: Erſatzmaͤnner, theilweiſe Er-
neuerungen, Verzichtung bis auf Wieder-
wahl
.

Die Erſatzmaͤnner (suppléans), auch Stellvertreter ge-
nannt, ſind eine Erfindung von 1791 1). Sie mehren
die Zahl der muͤſſigen, auf dem Anſtand ſtehenden Politi-
ker, ſchwaͤchen die Verpflichtung des Deputirten, der viel-
leicht zur gefaͤhrlichen Zeit aus der Reihe ſpringt und dar-
um ſicherlich kein Recht behalten darf, wieder einzuſprin-
gen, wenn ſein Erſatzmann ſtirbt; ſie fuͤhren Wandel und
Zufall in die Kammer ein, und laſſen das Urtheil von der-
ſelben nicht zur Reife kommen.

Mit vollem Rechte hat man in Frankreich ſeit der Juli-
Revolution die der Verfaſſung von 1795 abgelernte Af-
terweisheit der jaͤhrlichen Drittel-Erneuerung (Art. 53.),
von Ludwig XVIII. in eine Fuͤnftel-Erneuerung (Art. 37.)
umgeſtaltet, ausgeſtoßen. Sollte ſich wirklich im Groß-
herzogthum Baden die jaͤhrliche Viertels-Ausloſung und
Erneuerung der auf acht Jahre gewaͤhlten Kammer ſo be-
waͤhrt haben, daß ſich ein hinlaͤnglicher Grund zur Nach-
bildung fuͤr das Koͤnigreich Sachſen im Jahre 1831. ergaͤbe?
Soll man den Zufall ſuchen und die Wahlunruhe? Soll
man manchen ſchwaͤcheren Charakter zum Jagen nach eit-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0150" n="138"/>
              <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Sechstes Capitel</hi>.</fw><lb/>
              <p>161. Die Kammer, einmahl durch Wahl vereinigt,<lb/>
bleibe in die&#x017F;er Fri&#x017F;t (&#x017F;echs Jahre &#x017F;ind keine zu lange Zeit)<lb/>
fernerem Wech&#x017F;el ihrer Mitglieder mo&#x0364;glich&#x017F;t fremd; nur die<lb/>
ganze wird aufgelo&#x0364;st, oder &#x017F;tirbt, nachdem ihre Zeit erfu&#x0364;llt<lb/>
i&#x017F;t, natu&#x0364;rlichen Todes. Dem Zu&#x017F;ammen-Einwohnen in<lb/>
den Ge&#x017F;cha&#x0364;ften, der Bildung politi&#x017F;cher Charaktere, der<lb/>
nothwendigen Unwiderruflichkeit der einmahl erfolgten Wahl,<lb/>
mithin der Unabha&#x0364;ngigkeit der Kammer, treten die ver&#x017F;chie-<lb/>
denen Erfindungen, welche den Wech&#x017F;el nie enden la&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
&#x017F;to&#x0364;rend entgegen: <hi rendition="#g">Er&#x017F;atzma&#x0364;nner, theilwei&#x017F;e Er-<lb/>
neuerungen, Verzichtung bis auf Wieder-<lb/>
wahl</hi>.</p><lb/>
              <p>Die Er&#x017F;atzma&#x0364;nner (<hi rendition="#aq">suppléans</hi>), auch Stellvertreter ge-<lb/>
nannt, &#x017F;ind eine Erfindung von 1791 <hi rendition="#sup">1</hi>). Sie mehren<lb/>
die Zahl der mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;igen, auf dem An&#x017F;tand &#x017F;tehenden Politi-<lb/>
ker, &#x017F;chwa&#x0364;chen die Verpflichtung des Deputirten, der viel-<lb/>
leicht zur gefa&#x0364;hrlichen Zeit aus der Reihe &#x017F;pringt und dar-<lb/>
um &#x017F;icherlich kein Recht behalten darf, wieder einzu&#x017F;prin-<lb/>
gen, wenn &#x017F;ein Er&#x017F;atzmann &#x017F;tirbt; &#x017F;ie fu&#x0364;hren Wandel und<lb/>
Zufall in die Kammer ein, und la&#x017F;&#x017F;en das Urtheil von der-<lb/>
&#x017F;elben nicht zur Reife kommen.</p><lb/>
              <p>Mit vollem Rechte hat man in Frankreich &#x017F;eit der Juli-<lb/>
Revolution die der Verfa&#x017F;&#x017F;ung von 1795 abgelernte Af-<lb/>
terweisheit der ja&#x0364;hrlichen Drittel-Erneuerung (Art. 53.),<lb/>
von Ludwig <hi rendition="#aq">XVIII.</hi> in eine Fu&#x0364;nftel-Erneuerung (Art. 37.)<lb/>
umge&#x017F;taltet, ausge&#x017F;toßen. Sollte &#x017F;ich wirklich im Groß-<lb/>
herzogthum Baden die ja&#x0364;hrliche Viertels-Auslo&#x017F;ung und<lb/>
Erneuerung der auf acht Jahre gewa&#x0364;hlten Kammer &#x017F;o be-<lb/>
wa&#x0364;hrt haben, daß &#x017F;ich ein hinla&#x0364;nglicher Grund zur Nach-<lb/>
bildung fu&#x0364;r das Ko&#x0364;nigreich Sach&#x017F;en im Jahre 1831. erga&#x0364;be?<lb/>
Soll man den Zufall <hi rendition="#g">&#x017F;uchen</hi> und die Wahlunruhe? Soll<lb/>
man manchen &#x017F;chwa&#x0364;cheren Charakter zum Jagen nach eit-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[138/0150] Sechstes Capitel. 161. Die Kammer, einmahl durch Wahl vereinigt, bleibe in dieſer Friſt (ſechs Jahre ſind keine zu lange Zeit) fernerem Wechſel ihrer Mitglieder moͤglichſt fremd; nur die ganze wird aufgeloͤst, oder ſtirbt, nachdem ihre Zeit erfuͤllt iſt, natuͤrlichen Todes. Dem Zuſammen-Einwohnen in den Geſchaͤften, der Bildung politiſcher Charaktere, der nothwendigen Unwiderruflichkeit der einmahl erfolgten Wahl, mithin der Unabhaͤngigkeit der Kammer, treten die verſchie- denen Erfindungen, welche den Wechſel nie enden laſſen, ſtoͤrend entgegen: Erſatzmaͤnner, theilweiſe Er- neuerungen, Verzichtung bis auf Wieder- wahl. Die Erſatzmaͤnner (suppléans), auch Stellvertreter ge- nannt, ſind eine Erfindung von 1791 1). Sie mehren die Zahl der muͤſſigen, auf dem Anſtand ſtehenden Politi- ker, ſchwaͤchen die Verpflichtung des Deputirten, der viel- leicht zur gefaͤhrlichen Zeit aus der Reihe ſpringt und dar- um ſicherlich kein Recht behalten darf, wieder einzuſprin- gen, wenn ſein Erſatzmann ſtirbt; ſie fuͤhren Wandel und Zufall in die Kammer ein, und laſſen das Urtheil von der- ſelben nicht zur Reife kommen. Mit vollem Rechte hat man in Frankreich ſeit der Juli- Revolution die der Verfaſſung von 1795 abgelernte Af- terweisheit der jaͤhrlichen Drittel-Erneuerung (Art. 53.), von Ludwig XVIII. in eine Fuͤnftel-Erneuerung (Art. 37.) umgeſtaltet, ausgeſtoßen. Sollte ſich wirklich im Groß- herzogthum Baden die jaͤhrliche Viertels-Ausloſung und Erneuerung der auf acht Jahre gewaͤhlten Kammer ſo be- waͤhrt haben, daß ſich ein hinlaͤnglicher Grund zur Nach- bildung fuͤr das Koͤnigreich Sachſen im Jahre 1831. ergaͤbe? Soll man den Zufall ſuchen und die Wahlunruhe? Soll man manchen ſchwaͤcheren Charakter zum Jagen nach eit-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/150
Zitationshilfe: Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/150>, abgerufen am 12.10.2024.