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Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835.

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Vom Rechte des Widerstandes.
entsetzt, welchem das Reich und die Kurfürsten einträchtig
den Gehorsam aufkündigen. Und der sanfte Melanchthon
fand den Tyrannenmord ganz in der Ordnung. Kurz,
wer bei den gradhinblickenden Gottesgelehrten nachfragt,
nicht bloß den uralten (von heutigen Hoftheologen ist nicht
die Rede), hat weit kühnere Antworten zu befahren, als die ein
Mann von politischer Lebenskenntniß auf sich nehmen möchte.

203. Politische Erfahrung räth, gewisse Wege des
erlaubten Widerstandes freiwillig zu eröffnen, damit die
zerstörenden durch Warnung bei Zeiten, um so sicherer ver-
schlossen bleiben. Von welcher Art aber können jene seyn?
Soll man jeden Streit über den Inhalt und die Hand-
habung der Verfassung einem unpartheiischen Dritten im
Staate verfassungsmäßig anvertrauen, dessen Anrufung der
gesetzliche Widerstand wäre? Im Deutschen Reiche war
das gewissermaaßen thunlich, wo über der einzelnen reichs-
ständischen Regierung noch eine Reichsregierung stand, wel-
che die Erkenntnisse des Reichsgerichtes, wenigstens der
Theorie nach, auszuführen im Stande war; aber die
Haupttheilnehmer an dieser Reichsregierung waren gerade
die Häupter, gegen welche die Beschwerden sich richteten,
und wie wenig fehlte im Jahre 1671 daran, daß den
Reichsgerichten alle fernere Mühe abgenommen wäre! Wo
aber vollends der vollständige Staat keine andere Regie-
rung über der seinen anerkennt, da wird mit der Macht
über Regierungsrechte zu entscheiden die Regierung selber
übertragen. Die Ephoren, der Karthagische Rath der
Hundert, der Justicia der Arragonesen bezeugen das in
ihrer Geschichte. Es heißt dem Staate die Revolution ein-
impfen; denn die als Wächterin aufgestellte Gewalt muß
stärker seyn wollen als die regierende.

Vom Rechte des Widerſtandes.
entſetzt, welchem das Reich und die Kurfuͤrſten eintraͤchtig
den Gehorſam aufkuͤndigen. Und der ſanfte Melanchthon
fand den Tyrannenmord ganz in der Ordnung. Kurz,
wer bei den gradhinblickenden Gottesgelehrten nachfragt,
nicht bloß den uralten (von heutigen Hoftheologen iſt nicht
die Rede), hat weit kuͤhnere Antworten zu befahren, als die ein
Mann von politiſcher Lebenskenntniß auf ſich nehmen moͤchte.

203. Politiſche Erfahrung raͤth, gewiſſe Wege des
erlaubten Widerſtandes freiwillig zu eroͤffnen, damit die
zerſtoͤrenden durch Warnung bei Zeiten, um ſo ſicherer ver-
ſchloſſen bleiben. Von welcher Art aber koͤnnen jene ſeyn?
Soll man jeden Streit uͤber den Inhalt und die Hand-
habung der Verfaſſung einem unpartheiiſchen Dritten im
Staate verfaſſungsmaͤßig anvertrauen, deſſen Anrufung der
geſetzliche Widerſtand waͤre? Im Deutſchen Reiche war
das gewiſſermaaßen thunlich, wo uͤber der einzelnen reichs-
ſtaͤndiſchen Regierung noch eine Reichsregierung ſtand, wel-
che die Erkenntniſſe des Reichsgerichtes, wenigſtens der
Theorie nach, auszufuͤhren im Stande war; aber die
Haupttheilnehmer an dieſer Reichsregierung waren gerade
die Haͤupter, gegen welche die Beſchwerden ſich richteten,
und wie wenig fehlte im Jahre 1671 daran, daß den
Reichsgerichten alle fernere Muͤhe abgenommen waͤre! Wo
aber vollends der vollſtaͤndige Staat keine andere Regie-
rung uͤber der ſeinen anerkennt, da wird mit der Macht
uͤber Regierungsrechte zu entſcheiden die Regierung ſelber
uͤbertragen. Die Ephoren, der Karthagiſche Rath der
Hundert, der Juſticia der Arragoneſen bezeugen das in
ihrer Geſchichte. Es heißt dem Staate die Revolution ein-
impfen; denn die als Waͤchterin aufgeſtellte Gewalt muß
ſtaͤrker ſeyn wollen als die regierende.

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[175/0187] Vom Rechte des Widerſtandes. entſetzt, welchem das Reich und die Kurfuͤrſten eintraͤchtig den Gehorſam aufkuͤndigen. Und der ſanfte Melanchthon fand den Tyrannenmord ganz in der Ordnung. Kurz, wer bei den gradhinblickenden Gottesgelehrten nachfragt, nicht bloß den uralten (von heutigen Hoftheologen iſt nicht die Rede), hat weit kuͤhnere Antworten zu befahren, als die ein Mann von politiſcher Lebenskenntniß auf ſich nehmen moͤchte. 203. Politiſche Erfahrung raͤth, gewiſſe Wege des erlaubten Widerſtandes freiwillig zu eroͤffnen, damit die zerſtoͤrenden durch Warnung bei Zeiten, um ſo ſicherer ver- ſchloſſen bleiben. Von welcher Art aber koͤnnen jene ſeyn? Soll man jeden Streit uͤber den Inhalt und die Hand- habung der Verfaſſung einem unpartheiiſchen Dritten im Staate verfaſſungsmaͤßig anvertrauen, deſſen Anrufung der geſetzliche Widerſtand waͤre? Im Deutſchen Reiche war das gewiſſermaaßen thunlich, wo uͤber der einzelnen reichs- ſtaͤndiſchen Regierung noch eine Reichsregierung ſtand, wel- che die Erkenntniſſe des Reichsgerichtes, wenigſtens der Theorie nach, auszufuͤhren im Stande war; aber die Haupttheilnehmer an dieſer Reichsregierung waren gerade die Haͤupter, gegen welche die Beſchwerden ſich richteten, und wie wenig fehlte im Jahre 1671 daran, daß den Reichsgerichten alle fernere Muͤhe abgenommen waͤre! Wo aber vollends der vollſtaͤndige Staat keine andere Regie- rung uͤber der ſeinen anerkennt, da wird mit der Macht uͤber Regierungsrechte zu entſcheiden die Regierung ſelber uͤbertragen. Die Ephoren, der Karthagiſche Rath der Hundert, der Juſticia der Arragoneſen bezeugen das in ihrer Geſchichte. Es heißt dem Staate die Revolution ein- impfen; denn die als Waͤchterin aufgeſtellte Gewalt muß ſtaͤrker ſeyn wollen als die regierende.

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Zitationshilfe: Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/187>, abgerufen am 29.04.2024.