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Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835.

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Religion und Kirche im Staate.
wiegende Ursache haben, sich in dem unendlichen Vielen,
welches Gemeingut unter ihnen ist wieder zusammenzufin-
den, so daß in der Staatslehre allein von dem Verhalten
gegen nichtchristliche Mitglieder des Staats die Rede zu
seyn brauchte. Allein gerade das Gegentheil ist der Fall;
sie trennen sich beiweitem lieber wegen der Abweichungen
als daß sie wegen des Gemeinsamen zusammenhielten. Auch
liegt hiebei keineswegs bloß Partheisucht zum Grunde.
Das religiöse Gefühl gleicht dem künstlerischen darin, daß
es in der Richtung, die es einmahl genommen hat, die
allerbestimmteste Gestaltung begehrt, und so war es aller-
dings keineswegs bloße Leidenschaft, welche durch den Streit
über den Abendmahlspunkt Lutheraner von Reformirten
trennte und wieder Zwinglianer von Calvinisten. Die Er-
bitterung ging so weit, daß ein Theil den andern schlim-
mer als die Türken nannte; doch würde derjenige am
schlimmsten gefahren seyn, den bittersten Unmuth aller Par-
theien gegen sich vereint haben, der nun dazwischen ge-
treten wäre und gesagt hätte: "Es liegt an beiden Mei-
nungen nicht so viel, haltet Euch an dem worin Ihr einig
seyd"; denn allerdings hätte er das Formlose gewollt. So
erklärt sich einiger Maßen Melanchthons ungünstige Lage
gegen seine Zeit und überhaupt derjenigen, welche an Ver-
einigung der Confessionen arbeiten. Daß sich abweichende
Glaubensbekenntnisse bilden und in streitenden Kirchen dar-
stellen, läßt sich also einmahl nicht hemmen. Die Frage
wiederholt sich: Kann und soll der Staat allgemeine To-
leranz dagegen üben?

293. Wer vom Studium der Philosophie ausgegan-
gen ist und an die Frage kommt, wird sie mit Ja beant-
worten und wird vielleicht, um die Ausführbarkeit zu zei-

Religion und Kirche im Staate.
wiegende Urſache haben, ſich in dem unendlichen Vielen,
welches Gemeingut unter ihnen iſt wieder zuſammenzufin-
den, ſo daß in der Staatslehre allein von dem Verhalten
gegen nichtchriſtliche Mitglieder des Staats die Rede zu
ſeyn brauchte. Allein gerade das Gegentheil iſt der Fall;
ſie trennen ſich beiweitem lieber wegen der Abweichungen
als daß ſie wegen des Gemeinſamen zuſammenhielten. Auch
liegt hiebei keineswegs bloß Partheiſucht zum Grunde.
Das religioͤſe Gefuͤhl gleicht dem kuͤnſtleriſchen darin, daß
es in der Richtung, die es einmahl genommen hat, die
allerbeſtimmteſte Geſtaltung begehrt, und ſo war es aller-
dings keineswegs bloße Leidenſchaft, welche durch den Streit
uͤber den Abendmahlspunkt Lutheraner von Reformirten
trennte und wieder Zwinglianer von Calviniſten. Die Er-
bitterung ging ſo weit, daß ein Theil den andern ſchlim-
mer als die Tuͤrken nannte; doch wuͤrde derjenige am
ſchlimmſten gefahren ſeyn, den bitterſten Unmuth aller Par-
theien gegen ſich vereint haben, der nun dazwiſchen ge-
treten waͤre und geſagt haͤtte: “Es liegt an beiden Mei-
nungen nicht ſo viel, haltet Euch an dem worin Ihr einig
ſeyd”; denn allerdings haͤtte er das Formloſe gewollt. So
erklaͤrt ſich einiger Maßen Melanchthons unguͤnſtige Lage
gegen ſeine Zeit und uͤberhaupt derjenigen, welche an Ver-
einigung der Confeſſionen arbeiten. Daß ſich abweichende
Glaubensbekenntniſſe bilden und in ſtreitenden Kirchen dar-
ſtellen, laͤßt ſich alſo einmahl nicht hemmen. Die Frage
wiederholt ſich: Kann und ſoll der Staat allgemeine To-
leranz dagegen uͤben?

293. Wer vom Studium der Philoſophie ausgegan-
gen iſt und an die Frage kommt, wird ſie mit Ja beant-
worten und wird vielleicht, um die Ausfuͤhrbarkeit zu zei-

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[315/0327] Religion und Kirche im Staate. wiegende Urſache haben, ſich in dem unendlichen Vielen, welches Gemeingut unter ihnen iſt wieder zuſammenzufin- den, ſo daß in der Staatslehre allein von dem Verhalten gegen nichtchriſtliche Mitglieder des Staats die Rede zu ſeyn brauchte. Allein gerade das Gegentheil iſt der Fall; ſie trennen ſich beiweitem lieber wegen der Abweichungen als daß ſie wegen des Gemeinſamen zuſammenhielten. Auch liegt hiebei keineswegs bloß Partheiſucht zum Grunde. Das religioͤſe Gefuͤhl gleicht dem kuͤnſtleriſchen darin, daß es in der Richtung, die es einmahl genommen hat, die allerbeſtimmteſte Geſtaltung begehrt, und ſo war es aller- dings keineswegs bloße Leidenſchaft, welche durch den Streit uͤber den Abendmahlspunkt Lutheraner von Reformirten trennte und wieder Zwinglianer von Calviniſten. Die Er- bitterung ging ſo weit, daß ein Theil den andern ſchlim- mer als die Tuͤrken nannte; doch wuͤrde derjenige am ſchlimmſten gefahren ſeyn, den bitterſten Unmuth aller Par- theien gegen ſich vereint haben, der nun dazwiſchen ge- treten waͤre und geſagt haͤtte: “Es liegt an beiden Mei- nungen nicht ſo viel, haltet Euch an dem worin Ihr einig ſeyd”; denn allerdings haͤtte er das Formloſe gewollt. So erklaͤrt ſich einiger Maßen Melanchthons unguͤnſtige Lage gegen ſeine Zeit und uͤberhaupt derjenigen, welche an Ver- einigung der Confeſſionen arbeiten. Daß ſich abweichende Glaubensbekenntniſſe bilden und in ſtreitenden Kirchen dar- ſtellen, laͤßt ſich alſo einmahl nicht hemmen. Die Frage wiederholt ſich: Kann und ſoll der Staat allgemeine To- leranz dagegen uͤben? 293. Wer vom Studium der Philoſophie ausgegan- gen iſt und an die Frage kommt, wird ſie mit Ja beant- worten und wird vielleicht, um die Ausfuͤhrbarkeit zu zei-

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Zitationshilfe: Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/327>, abgerufen am 14.05.2024.