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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit
der Schlagschatten geht bis zur Pedanterie; die Figuren sind die-
selben gedrungenen, starkknochigen wie auf seinen älteren Bil-
dern; an Fähigkeit zu seelischem Ausdruck in den Gesichtszügen
hat er kaum zugenommen. Bedeutsam ist dagegen das Streben,
seine Menschen durch Haltung und Gebärde ihr Inneres verraten
zu lassen. Der wie ein Träumender aus dem Gefängnis geführte
Petrus wirkt in seiner Unbeholfenheit doch wahrhaft ergreifend
und nicht minder der schwungvoll bewegte himmlische Bote. Hier
kommt noch das spezielle Interesse an den Verkürzungen hinzu.
Beim Engel sind sie wohlgelungen, das Wagnis mit der verwickelten
Bewegung des Kriegsknechtes geht über Witzens Kraft. Nun aber
zeigt sie sich in ihrem eigensten Elemente und auf einer staunen-
erregenden Höhe in der Landschaft auf Petri Fischzug. Diese geht
über alles hinaus, was gleichzeitige Italiener oder Niederländer
erreicht oder überhaupt nur gewollt haben; in der deutschen Kunst
bis zum Schluß des 15. Jahrhunderts kommt ihr nichts auch nur
von ferne gleich. Die Landschaft auf dem Genter Altar der van
Eycks ist poetischer in ihrer Farbenschönheit; in der strengen,
großartigen Sachlichkeit erinnert Witz unmittelbar an die Aquarell-
studien Dürers. Wie ist die große Wasserfläche belebt und doch
durchaus in ihrem Charakter als ebener Spiegel festgehalten! Vorn
scheinen die Steine des Grundes dunkelgrün aus dem durchsich-
tigen Elemente hervor; weiter treten Luftreflexe und Windstreifen
ein; das vorwärts geruderte Boot regt leichte Wellenkreise auf;
und am jenseitigen Ufer erhebt sich hügelichtes Gelände mit Wiesen,
Straßen, Bäumen und Häusern, Schneeberge am Horizont, alles
in größter Deutlichkeit, dabei doch immer als Masse empfunden.
In der Tat ist es auch keine Phantasielandschaft, sondern ein ge-
naues Landschaftsporträt: die Ansicht des Genfer Sees nahe dem
Dorfe Pregny aufgenommen. Zu vergleichen ist der architektonische
Hintergrund auf dem Bilde des Museums von Neapel (zuerst von
Bayersdorfer für Witz reklamiert), insofern wieder eine bestimmte
Örtlichkeit, die Innenansicht des Basler Münsters, zur Darstellung
kommt. Soviel ich weiß, sind derartige genaue Individualisierungen
von Landschaft oder Architektur bei den Niederländern nicht
nachgewiesen. -- --

Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit
der Schlagschatten geht bis zur Pedanterie; die Figuren sind die-
selben gedrungenen, starkknochigen wie auf seinen älteren Bil-
dern; an Fähigkeit zu seelischem Ausdruck in den Gesichtszügen
hat er kaum zugenommen. Bedeutsam ist dagegen das Streben,
seine Menschen durch Haltung und Gebärde ihr Inneres verraten
zu lassen. Der wie ein Träumender aus dem Gefängnis geführte
Petrus wirkt in seiner Unbeholfenheit doch wahrhaft ergreifend
und nicht minder der schwungvoll bewegte himmlische Bote. Hier
kommt noch das spezielle Interesse an den Verkürzungen hinzu.
Beim Engel sind sie wohlgelungen, das Wagnis mit der verwickelten
Bewegung des Kriegsknechtes geht über Witzens Kraft. Nun aber
zeigt sie sich in ihrem eigensten Elemente und auf einer staunen-
erregenden Höhe in der Landschaft auf Petri Fischzug. Diese geht
über alles hinaus, was gleichzeitige Italiener oder Niederländer
erreicht oder überhaupt nur gewollt haben; in der deutschen Kunst
bis zum Schluß des 15. Jahrhunderts kommt ihr nichts auch nur
von ferne gleich. Die Landschaft auf dem Genter Altar der van
Eycks ist poetischer in ihrer Farbenschönheit; in der strengen,
großartigen Sachlichkeit erinnert Witz unmittelbar an die Aquarell-
studien Dürers. Wie ist die große Wasserfläche belebt und doch
durchaus in ihrem Charakter als ebener Spiegel festgehalten! Vorn
scheinen die Steine des Grundes dunkelgrün aus dem durchsich-
tigen Elemente hervor; weiter treten Luftreflexe und Windstreifen
ein; das vorwärts geruderte Boot regt leichte Wellenkreise auf;
und am jenseitigen Ufer erhebt sich hügelichtes Gelände mit Wiesen,
Straßen, Bäumen und Häusern, Schneeberge am Horizont, alles
in größter Deutlichkeit, dabei doch immer als Masse empfunden.
In der Tat ist es auch keine Phantasielandschaft, sondern ein ge-
naues Landschaftsporträt: die Ansicht des Genfer Sees nahe dem
Dorfe Pregny aufgenommen. Zu vergleichen ist der architektonische
Hintergrund auf dem Bilde des Museums von Neapel (zuerst von
Bayersdorfer für Witz reklamiert), insofern wieder eine bestimmte
Örtlichkeit, die Innenansicht des Basler Münsters, zur Darstellung
kommt. Soviel ich weiß, sind derartige genaue Individualisierungen
von Landschaft oder Architektur bei den Niederländern nicht
nachgewiesen. — —

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[126/0148] Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit der Schlagschatten geht bis zur Pedanterie; die Figuren sind die- selben gedrungenen, starkknochigen wie auf seinen älteren Bil- dern; an Fähigkeit zu seelischem Ausdruck in den Gesichtszügen hat er kaum zugenommen. Bedeutsam ist dagegen das Streben, seine Menschen durch Haltung und Gebärde ihr Inneres verraten zu lassen. Der wie ein Träumender aus dem Gefängnis geführte Petrus wirkt in seiner Unbeholfenheit doch wahrhaft ergreifend und nicht minder der schwungvoll bewegte himmlische Bote. Hier kommt noch das spezielle Interesse an den Verkürzungen hinzu. Beim Engel sind sie wohlgelungen, das Wagnis mit der verwickelten Bewegung des Kriegsknechtes geht über Witzens Kraft. Nun aber zeigt sie sich in ihrem eigensten Elemente und auf einer staunen- erregenden Höhe in der Landschaft auf Petri Fischzug. Diese geht über alles hinaus, was gleichzeitige Italiener oder Niederländer erreicht oder überhaupt nur gewollt haben; in der deutschen Kunst bis zum Schluß des 15. Jahrhunderts kommt ihr nichts auch nur von ferne gleich. Die Landschaft auf dem Genter Altar der van Eycks ist poetischer in ihrer Farbenschönheit; in der strengen, großartigen Sachlichkeit erinnert Witz unmittelbar an die Aquarell- studien Dürers. Wie ist die große Wasserfläche belebt und doch durchaus in ihrem Charakter als ebener Spiegel festgehalten! Vorn scheinen die Steine des Grundes dunkelgrün aus dem durchsich- tigen Elemente hervor; weiter treten Luftreflexe und Windstreifen ein; das vorwärts geruderte Boot regt leichte Wellenkreise auf; und am jenseitigen Ufer erhebt sich hügelichtes Gelände mit Wiesen, Straßen, Bäumen und Häusern, Schneeberge am Horizont, alles in größter Deutlichkeit, dabei doch immer als Masse empfunden. In der Tat ist es auch keine Phantasielandschaft, sondern ein ge- naues Landschaftsporträt: die Ansicht des Genfer Sees nahe dem Dorfe Pregny aufgenommen. Zu vergleichen ist der architektonische Hintergrund auf dem Bilde des Museums von Neapel (zuerst von Bayersdorfer für Witz reklamiert), insofern wieder eine bestimmte Örtlichkeit, die Innenansicht des Basler Münsters, zur Darstellung kommt. Soviel ich weiß, sind derartige genaue Individualisierungen von Landschaft oder Architektur bei den Niederländern nicht nachgewiesen. — —

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/148>, abgerufen am 23.04.2024.