Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

Bild:
<< vorherige Seite
Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit

Ich versuche zum Schluß, Witzens geschichtliche Stellung
zu bestimmen. Daß er über den in der Entwicklung der ober-
deutschen Malerei vorgefundenen Punkt weit hinausgekommen ist,
leuchtet sofort ein; zu fragen bleibt, wieviel davon er etwa schon
vorhandenen Ansätzen, wieviel sich selbst, wieviel möglicherweise
dem Auslande, als welches natürlich nur die Niederlande in Be-
tracht kommen können, verdankt? Eine genaue Bilanz läßt sich
so lange nicht ziehen, als wir die Jugendwerke Witzens nicht ken-
nen. Die von Burckhardt umsichtig und sachkundig angestellten
Erwägungen führen aber mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit zu dem
Schluß, daß er die niederländische Kunst nicht in den Niederlanden
selbt, sondern erst in Basel kennen gelernt hat, wo für die Konzils-
zeit die Anwesenheit niederländischer Händler und Handwerker
historisch nachgewiesen ist. Es ist ja auch schon die Hypothese
ausgesprochen worden, daß der Meister von Flemalle sich damals
dort aufgehalten habe; gerade an diesen erinnert wirklich manches
in Witzens Art; leider ist die Voraussetzung recht unsicher. Will
man hingegen an eine niederländische Reise denken, so müßte
sie vor 1430 stattgefunden haben. Damals aber war der Genter
Altar noch nicht aufgestellt, war der Ruhm der van Eycks noch
nicht in alle Welt gegangen. Was Witz dorthin gezogen haben
möchte, welche Bilder der neuen Richtung er gesehen haben könnte,
entzieht sich jeder Berechnung. Entscheidend ist nur, daß auch
aus inneren Gründen eine solche Reise eher unwahrscheinlich ist.
Hätte es erst der Niederländer bedurft, um Witz zum Realisten
zu machen, so wäre entweder die Abhängigkeit von jenen eine voll-
ständigere geworden, oder es hätte sich das Erworbene mit Archais-
men und Suabismen äußerlich vermengt. Weder das eine noch
das andere liegt vor. Witz ist ein ganzer und entschlossener Realist,
er hat das neue Prinzip in seinem innersten Wesen erfaßt, aber er
stellt es selbständig dar. Die Zahl der unmittelbar an Nieder-
ländisches erinnernden Züge ist gar nicht so groß und sie gehören
nur seinen späteren Werken an; noch der Basler Altar, der etwa
zehn Jahre vor dem Genfer entstanden ist, enthält nichts, das
notwendig auf diese Quelle zurückgeführt werden müßte.
Nebenher muß freilich noch eine andere Frage gestellt werden,

Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit

Ich versuche zum Schluß, Witzens geschichtliche Stellung
zu bestimmen. Daß er über den in der Entwicklung der ober-
deutschen Malerei vorgefundenen Punkt weit hinausgekommen ist,
leuchtet sofort ein; zu fragen bleibt, wieviel davon er etwa schon
vorhandenen Ansätzen, wieviel sich selbst, wieviel möglicherweise
dem Auslande, als welches natürlich nur die Niederlande in Be-
tracht kommen können, verdankt? Eine genaue Bilanz läßt sich
so lange nicht ziehen, als wir die Jugendwerke Witzens nicht ken-
nen. Die von Burckhardt umsichtig und sachkundig angestellten
Erwägungen führen aber mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit zu dem
Schluß, daß er die niederländische Kunst nicht in den Niederlanden
selbt, sondern erst in Basel kennen gelernt hat, wo für die Konzils-
zeit die Anwesenheit niederländischer Händler und Handwerker
historisch nachgewiesen ist. Es ist ja auch schon die Hypothese
ausgesprochen worden, daß der Meister von Flémalle sich damals
dort aufgehalten habe; gerade an diesen erinnert wirklich manches
in Witzens Art; leider ist die Voraussetzung recht unsicher. Will
man hingegen an eine niederländische Reise denken, so müßte
sie vor 1430 stattgefunden haben. Damals aber war der Genter
Altar noch nicht aufgestellt, war der Ruhm der van Eycks noch
nicht in alle Welt gegangen. Was Witz dorthin gezogen haben
möchte, welche Bilder der neuen Richtung er gesehen haben könnte,
entzieht sich jeder Berechnung. Entscheidend ist nur, daß auch
aus inneren Gründen eine solche Reise eher unwahrscheinlich ist.
Hätte es erst der Niederländer bedurft, um Witz zum Realisten
zu machen, so wäre entweder die Abhängigkeit von jenen eine voll-
ständigere geworden, oder es hätte sich das Erworbene mit Archais-
men und Suabismen äußerlich vermengt. Weder das eine noch
das andere liegt vor. Witz ist ein ganzer und entschlossener Realist,
er hat das neue Prinzip in seinem innersten Wesen erfaßt, aber er
stellt es selbständig dar. Die Zahl der unmittelbar an Nieder-
ländisches erinnernden Züge ist gar nicht so groß und sie gehören
nur seinen späteren Werken an; noch der Basler Altar, der etwa
zehn Jahre vor dem Genfer entstanden ist, enthält nichts, das
notwendig auf diese Quelle zurückgeführt werden müßte.
Nebenher muß freilich noch eine andere Frage gestellt werden,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0149" n="127"/>
          <fw place="top" type="header">Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit</fw><lb/>
          <p>Ich versuche zum Schluß, Witzens geschichtliche Stellung<lb/>
zu bestimmen. Daß er über den in der Entwicklung der ober-<lb/>
deutschen Malerei vorgefundenen Punkt weit hinausgekommen ist,<lb/>
leuchtet sofort ein; zu fragen bleibt, wieviel davon er etwa schon<lb/>
vorhandenen Ansätzen, wieviel sich selbst, wieviel möglicherweise<lb/>
dem Auslande, als welches natürlich nur die Niederlande in Be-<lb/>
tracht kommen können, verdankt? Eine genaue Bilanz läßt sich<lb/>
so lange nicht ziehen, als wir die Jugendwerke Witzens nicht ken-<lb/>
nen. Die von Burckhardt umsichtig und sachkundig angestellten<lb/>
Erwägungen führen aber mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit zu dem<lb/>
Schluß, daß er die niederländische Kunst nicht in den Niederlanden<lb/>
selbt, sondern erst in Basel kennen gelernt hat, wo für die Konzils-<lb/>
zeit die Anwesenheit niederländischer Händler und Handwerker<lb/>
historisch nachgewiesen ist. Es ist ja auch schon die Hypothese<lb/>
ausgesprochen worden, daß der Meister von Flémalle sich damals<lb/>
dort aufgehalten habe; gerade an diesen erinnert wirklich manches<lb/>
in Witzens Art; leider ist die Voraussetzung recht unsicher. Will<lb/>
man hingegen an eine niederländische Reise denken, so müßte<lb/>
sie vor 1430 stattgefunden haben. Damals aber war der Genter<lb/>
Altar noch nicht aufgestellt, war der Ruhm der van Eycks noch<lb/>
nicht in alle Welt gegangen. Was Witz dorthin gezogen haben<lb/>
möchte, welche Bilder der neuen Richtung er gesehen haben könnte,<lb/>
entzieht sich jeder Berechnung. Entscheidend ist nur, daß auch<lb/>
aus inneren Gründen eine solche Reise eher unwahrscheinlich ist.<lb/>
Hätte es erst der Niederländer bedurft, um Witz zum Realisten<lb/>
zu machen, so wäre entweder die Abhängigkeit von jenen eine voll-<lb/>
ständigere geworden, oder es hätte sich das Erworbene mit Archais-<lb/>
men und Suabismen äußerlich vermengt. Weder das eine noch<lb/>
das andere liegt vor. Witz ist ein ganzer und entschlossener Realist,<lb/>
er hat das neue Prinzip in seinem innersten Wesen erfaßt, aber er<lb/>
stellt es selbständig dar. Die Zahl der unmittelbar an Nieder-<lb/>
ländisches erinnernden Züge ist gar nicht so groß und sie gehören<lb/>
nur seinen späteren Werken an; noch der Basler Altar, der etwa<lb/>
zehn Jahre vor dem Genfer entstanden ist, enthält nichts, das<lb/><hi rendition="#g">notwendig</hi> auf diese Quelle zurückgeführt werden müßte.<lb/>
Nebenher muß freilich noch eine andere Frage gestellt werden,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[127/0149] Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit Ich versuche zum Schluß, Witzens geschichtliche Stellung zu bestimmen. Daß er über den in der Entwicklung der ober- deutschen Malerei vorgefundenen Punkt weit hinausgekommen ist, leuchtet sofort ein; zu fragen bleibt, wieviel davon er etwa schon vorhandenen Ansätzen, wieviel sich selbst, wieviel möglicherweise dem Auslande, als welches natürlich nur die Niederlande in Be- tracht kommen können, verdankt? Eine genaue Bilanz läßt sich so lange nicht ziehen, als wir die Jugendwerke Witzens nicht ken- nen. Die von Burckhardt umsichtig und sachkundig angestellten Erwägungen führen aber mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit zu dem Schluß, daß er die niederländische Kunst nicht in den Niederlanden selbt, sondern erst in Basel kennen gelernt hat, wo für die Konzils- zeit die Anwesenheit niederländischer Händler und Handwerker historisch nachgewiesen ist. Es ist ja auch schon die Hypothese ausgesprochen worden, daß der Meister von Flémalle sich damals dort aufgehalten habe; gerade an diesen erinnert wirklich manches in Witzens Art; leider ist die Voraussetzung recht unsicher. Will man hingegen an eine niederländische Reise denken, so müßte sie vor 1430 stattgefunden haben. Damals aber war der Genter Altar noch nicht aufgestellt, war der Ruhm der van Eycks noch nicht in alle Welt gegangen. Was Witz dorthin gezogen haben möchte, welche Bilder der neuen Richtung er gesehen haben könnte, entzieht sich jeder Berechnung. Entscheidend ist nur, daß auch aus inneren Gründen eine solche Reise eher unwahrscheinlich ist. Hätte es erst der Niederländer bedurft, um Witz zum Realisten zu machen, so wäre entweder die Abhängigkeit von jenen eine voll- ständigere geworden, oder es hätte sich das Erworbene mit Archais- men und Suabismen äußerlich vermengt. Weder das eine noch das andere liegt vor. Witz ist ein ganzer und entschlossener Realist, er hat das neue Prinzip in seinem innersten Wesen erfaßt, aber er stellt es selbständig dar. Die Zahl der unmittelbar an Nieder- ländisches erinnernden Züge ist gar nicht so groß und sie gehören nur seinen späteren Werken an; noch der Basler Altar, der etwa zehn Jahre vor dem Genfer entstanden ist, enthält nichts, das notwendig auf diese Quelle zurückgeführt werden müßte. Nebenher muß freilich noch eine andere Frage gestellt werden,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Schulz, Dienstleister (Muttersprachler): Bereitstellung der Texttranskription nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-02-21T10:17:23Z)
University of Toronto, Robarts Library of Humanities & Social Sciences: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-02-21T10:17:23Z)
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademiebibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate für die Seiten 122 und 123 (2012-02-21T10:17:23Z)

Weitere Informationen:

  • Nach den Richtlinien des Deutschen Textarchivs (DTA) transkribiert und ausgezeichnet.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/149
Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/149>, abgerufen am 19.04.2024.