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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Die Kunst des Mittelalters
winzigen Maßstab herabgedrückt. Noch größer ist die Abhängig-
keit der Bildhauerkunst; lange Zeit existierte sie überhaupt nur
in der kunstgewerblichen Hülle. Ja, auch die am meisten ge-
pflegten Gattungen der Malerei, die gewebten und gestickten
Darstellungen, die man bezeichnend unter dem Namen Faden-
malerei zusammenfaßt, die Emailmalerei, die Glasmalerei, im
Grunde auch die Buchmalerei, sie sind nicht nur im äußeren
Betriebe, sondern auch nach ihrem inneren Stilgesetz Kunstge-
werbe, d. h. nicht "freie", sondern "angewandte" Kunst, und
der sichere Takt in der Findung und Anwendung dieses Gesetzes
ist eine der schönsten Seiten der mittelalterlichen Kunst. Ferner
ist den Kleinkünstlern, besonders wieder in der Frühzeit, die
wichtigste Vermittlerrolle zwischen räumlich entfernten Kunst-
gebieten zugefallen. Was der romanische Stil des Abendlandes
von Byzanz und dem Orient aufgenommen hat, kam großenteils
auf diesem Wege. Endlich liegen auf diesem Gebiet auch die
Keime der an der Grenze zur Neuzeit sich selbständig machenden
reproduktiven Künste: der Zeugdruck und die Schablonen der
Sticker sind Vorläufer des Holzschnittes, die Gravierungen der
Goldschmiede Vorläufer des Kupferstichs. So ist das Kunstgewerbe
gleichsam die mikrokosmische Zusammenfassung aller übrigen
Künste. Man kennt das Mittelalter nicht, wenn man nicht sein
Kunstgewerbe kennt.



Die Kunst des Mittelalters
winzigen Maßstab herabgedrückt. Noch größer ist die Abhängig-
keit der Bildhauerkunst; lange Zeit existierte sie überhaupt nur
in der kunstgewerblichen Hülle. Ja, auch die am meisten ge-
pflegten Gattungen der Malerei, die gewebten und gestickten
Darstellungen, die man bezeichnend unter dem Namen Faden-
malerei zusammenfaßt, die Emailmalerei, die Glasmalerei, im
Grunde auch die Buchmalerei, sie sind nicht nur im äußeren
Betriebe, sondern auch nach ihrem inneren Stilgesetz Kunstge-
werbe, d. h. nicht »freie«, sondern »angewandte« Kunst, und
der sichere Takt in der Findung und Anwendung dieses Gesetzes
ist eine der schönsten Seiten der mittelalterlichen Kunst. Ferner
ist den Kleinkünstlern, besonders wieder in der Frühzeit, die
wichtigste Vermittlerrolle zwischen räumlich entfernten Kunst-
gebieten zugefallen. Was der romanische Stil des Abendlandes
von Byzanz und dem Orient aufgenommen hat, kam großenteils
auf diesem Wege. Endlich liegen auf diesem Gebiet auch die
Keime der an der Grenze zur Neuzeit sich selbständig machenden
reproduktiven Künste: der Zeugdruck und die Schablonen der
Sticker sind Vorläufer des Holzschnittes, die Gravierungen der
Goldschmiede Vorläufer des Kupferstichs. So ist das Kunstgewerbe
gleichsam die mikrokosmische Zusammenfassung aller übrigen
Künste. Man kennt das Mittelalter nicht, wenn man nicht sein
Kunstgewerbe kennt.



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[48/0062] Die Kunst des Mittelalters winzigen Maßstab herabgedrückt. Noch größer ist die Abhängig- keit der Bildhauerkunst; lange Zeit existierte sie überhaupt nur in der kunstgewerblichen Hülle. Ja, auch die am meisten ge- pflegten Gattungen der Malerei, die gewebten und gestickten Darstellungen, die man bezeichnend unter dem Namen Faden- malerei zusammenfaßt, die Emailmalerei, die Glasmalerei, im Grunde auch die Buchmalerei, sie sind nicht nur im äußeren Betriebe, sondern auch nach ihrem inneren Stilgesetz Kunstge- werbe, d. h. nicht »freie«, sondern »angewandte« Kunst, und der sichere Takt in der Findung und Anwendung dieses Gesetzes ist eine der schönsten Seiten der mittelalterlichen Kunst. Ferner ist den Kleinkünstlern, besonders wieder in der Frühzeit, die wichtigste Vermittlerrolle zwischen räumlich entfernten Kunst- gebieten zugefallen. Was der romanische Stil des Abendlandes von Byzanz und dem Orient aufgenommen hat, kam großenteils auf diesem Wege. Endlich liegen auf diesem Gebiet auch die Keime der an der Grenze zur Neuzeit sich selbständig machenden reproduktiven Künste: der Zeugdruck und die Schablonen der Sticker sind Vorläufer des Holzschnittes, die Gravierungen der Goldschmiede Vorläufer des Kupferstichs. So ist das Kunstgewerbe gleichsam die mikrokosmische Zusammenfassung aller übrigen Künste. Man kennt das Mittelalter nicht, wenn man nicht sein Kunstgewerbe kennt.

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/62>, abgerufen am 29.03.2024.