Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Delbrück, Berthold: Die neueste Sprachforschung. Betrachtungen über Georg Curtius Schrift zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

Bild:
<< vorherige Seite

(2. Auflage 1884). Seit es Schriftsteller und Leser in der
Welt giebt, behaupten die ersteren, dass sie trotz aller Vor-
reden und Schlussworte von den letzteren in ihren eigent-
lichen Absichten nicht völlig verstanden werden. Ich meine,
dass dies allgemeine Loos auch meine kleine Schrift ge-
troffen hat, und will deshalb hier erzählen, wie ich dazu
gekommen bin, sie zu verfassen. Schon lange war mir in
Gesprächen mit Männern, die an der Entwickelung der
Sprachwissenschaft mehr empfangend als thätig theilnehmen,
klar geworden, dass sich in der wissenschaftlichen Bewegung
eine starke Unterströmung entwickelt hatte, welche zunächst
in der Literatur kaum zu Tage trat. So war z. B. die
Lehre von den zwei Steigerungen, an welcher Schleicher
eine besondere Freude gehabt hatte, von den Fachleuten
längst aufgegeben, ehe sie öffentlich bekämpft wurde; manche
der neuen Ansichten, z. B. die Lehre von den zwei K-Reihen
war in Vorlesungen vorbereitet und schon in ähnlicher Ge-
stalt verbreitet worden, wie diejenige, in welcher sie dann
ans Licht trat; die Theorie, dass man bei der Auffassung
der sogenannten Steigerung den umgekehrten Weg ein-
schlagen müsse, hat mir schon vor etwa zwölf Jahren einer
meiner Freunde, der jetzt wie es scheint den Ansichten
von Curtius näher steht als den meinigen, lebhaft entwickelt,
ohne mich damals zu überzeugen; die Wichtigkeit des Ge-
sichtspunktes der Analogiewirkungen hatte Leskien so ein-
drücklich in seinen Vorlesungen gepredigt, dass seine eigene
Schrift über die Declination im Slavisch-Litauischen und
Germanischen (Leipzig 1876) nicht mehr mit dem Reiz der
Neuheit wirkte, wie sie gethan haben würde, wenn Leskien
nur Schriftsteller, nicht auch Lehrer wäre; die Lehren der
Lautphysiologie haben ihren stillen aber starken Einfluss
auf die Gestaltung unserer Ansichten vielleicht mehr auf
dem Wege mündlicher wie schriftlicher Mittheilung gewonnen,

(2. Auflage 1884). Seit es Schriftsteller und Leser in der
Welt giebt, behaupten die ersteren, dass sie trotz aller Vor-
reden und Schlussworte von den letzteren in ihren eigent-
lichen Absichten nicht völlig verstanden werden. Ich meine,
dass dies allgemeine Loos auch meine kleine Schrift ge-
troffen hat, und will deshalb hier erzählen, wie ich dazu
gekommen bin, sie zu verfassen. Schon lange war mir in
Gesprächen mit Männern, die an der Entwickelung der
Sprachwissenschaft mehr empfangend als thätig theilnehmen,
klar geworden, dass sich in der wissenschaftlichen Bewegung
eine starke Unterströmung entwickelt hatte, welche zunächst
in der Literatur kaum zu Tage trat. So war z. B. die
Lehre von den zwei Steigerungen, an welcher Schleicher
eine besondere Freude gehabt hatte, von den Fachleuten
längst aufgegeben, ehe sie öffentlich bekämpft wurde; manche
der neuen Ansichten, z. B. die Lehre von den zwei K-Reihen
war in Vorlesungen vorbereitet und schon in ähnlicher Ge-
stalt verbreitet worden, wie diejenige, in welcher sie dann
ans Licht trat; die Theorie, dass man bei der Auffassung
der sogenannten Steigerung den umgekehrten Weg ein-
schlagen müsse, hat mir schon vor etwa zwölf Jahren einer
meiner Freunde, der jetzt wie es scheint den Ansichten
von Curtius näher steht als den meinigen, lebhaft entwickelt,
ohne mich damals zu überzeugen; die Wichtigkeit des Ge-
sichtspunktes der Analogiewirkungen hatte Leskien so ein-
drücklich in seinen Vorlesungen gepredigt, dass seine eigene
Schrift über die Declination im Slavisch-Litauischen und
Germanischen (Leipzig 1876) nicht mehr mit dem Reiz der
Neuheit wirkte, wie sie gethan haben würde, wenn Leskien
nur Schriftsteller, nicht auch Lehrer wäre; die Lehren der
Lautphysiologie haben ihren stillen aber starken Einfluss
auf die Gestaltung unserer Ansichten vielleicht mehr auf
dem Wege mündlicher wie schriftlicher Mittheilung gewonnen,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0010" n="5"/>
(2. Auflage 1884). Seit es Schriftsteller und Leser in der<lb/>
Welt giebt, behaupten die ersteren, dass sie trotz aller Vor-<lb/>
reden und Schlussworte von den letzteren in ihren eigent-<lb/>
lichen Absichten nicht völlig verstanden werden. Ich meine,<lb/>
dass dies allgemeine Loos auch meine kleine Schrift ge-<lb/>
troffen hat, und will deshalb hier erzählen, wie ich dazu<lb/>
gekommen bin, sie zu verfassen. Schon lange war mir in<lb/>
Gesprächen mit Männern, die an der Entwickelung der<lb/>
Sprachwissenschaft mehr empfangend als thätig theilnehmen,<lb/>
klar geworden, dass sich in der wissenschaftlichen Bewegung<lb/>
eine starke Unterströmung entwickelt hatte, welche zunächst<lb/>
in der Literatur kaum zu Tage trat. So war z. B. die<lb/>
Lehre von den zwei Steigerungen, an welcher Schleicher<lb/>
eine besondere Freude gehabt hatte, von den Fachleuten<lb/>
längst aufgegeben, ehe sie öffentlich bekämpft wurde; manche<lb/>
der neuen Ansichten, z. B. die Lehre von den zwei K-Reihen<lb/>
war in Vorlesungen vorbereitet und schon in ähnlicher Ge-<lb/>
stalt verbreitet worden, wie diejenige, in welcher sie dann<lb/>
ans Licht trat; die Theorie, dass man bei der Auffassung<lb/>
der sogenannten Steigerung den umgekehrten Weg ein-<lb/>
schlagen müsse, hat mir schon vor etwa zwölf Jahren einer<lb/>
meiner Freunde, der jetzt wie es scheint den Ansichten<lb/>
von Curtius näher steht als den meinigen, lebhaft entwickelt,<lb/>
ohne mich damals zu überzeugen; die Wichtigkeit des Ge-<lb/>
sichtspunktes der Analogiewirkungen hatte Leskien so ein-<lb/>
drücklich in seinen Vorlesungen gepredigt, dass seine eigene<lb/>
Schrift über die Declination im Slavisch-Litauischen und<lb/>
Germanischen (Leipzig 1876) nicht mehr mit dem Reiz der<lb/>
Neuheit wirkte, wie sie gethan haben würde, wenn Leskien<lb/>
nur Schriftsteller, nicht auch Lehrer wäre; die Lehren der<lb/>
Lautphysiologie haben ihren stillen aber starken Einfluss<lb/>
auf die Gestaltung unserer Ansichten vielleicht mehr auf<lb/>
dem Wege mündlicher wie schriftlicher Mittheilung gewonnen,<lb/></p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[5/0010] (2. Auflage 1884). Seit es Schriftsteller und Leser in der Welt giebt, behaupten die ersteren, dass sie trotz aller Vor- reden und Schlussworte von den letzteren in ihren eigent- lichen Absichten nicht völlig verstanden werden. Ich meine, dass dies allgemeine Loos auch meine kleine Schrift ge- troffen hat, und will deshalb hier erzählen, wie ich dazu gekommen bin, sie zu verfassen. Schon lange war mir in Gesprächen mit Männern, die an der Entwickelung der Sprachwissenschaft mehr empfangend als thätig theilnehmen, klar geworden, dass sich in der wissenschaftlichen Bewegung eine starke Unterströmung entwickelt hatte, welche zunächst in der Literatur kaum zu Tage trat. So war z. B. die Lehre von den zwei Steigerungen, an welcher Schleicher eine besondere Freude gehabt hatte, von den Fachleuten längst aufgegeben, ehe sie öffentlich bekämpft wurde; manche der neuen Ansichten, z. B. die Lehre von den zwei K-Reihen war in Vorlesungen vorbereitet und schon in ähnlicher Ge- stalt verbreitet worden, wie diejenige, in welcher sie dann ans Licht trat; die Theorie, dass man bei der Auffassung der sogenannten Steigerung den umgekehrten Weg ein- schlagen müsse, hat mir schon vor etwa zwölf Jahren einer meiner Freunde, der jetzt wie es scheint den Ansichten von Curtius näher steht als den meinigen, lebhaft entwickelt, ohne mich damals zu überzeugen; die Wichtigkeit des Ge- sichtspunktes der Analogiewirkungen hatte Leskien so ein- drücklich in seinen Vorlesungen gepredigt, dass seine eigene Schrift über die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen (Leipzig 1876) nicht mehr mit dem Reiz der Neuheit wirkte, wie sie gethan haben würde, wenn Leskien nur Schriftsteller, nicht auch Lehrer wäre; die Lehren der Lautphysiologie haben ihren stillen aber starken Einfluss auf die Gestaltung unserer Ansichten vielleicht mehr auf dem Wege mündlicher wie schriftlicher Mittheilung gewonnen,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/delbrueck_sprachforschung_1885
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/delbrueck_sprachforschung_1885/10
Zitationshilfe: Delbrück, Berthold: Die neueste Sprachforschung. Betrachtungen über Georg Curtius Schrift zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/delbrueck_sprachforschung_1885/10>, abgerufen am 19.04.2024.