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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Kapitel.
Augustinus.

Die christlichen Gemeinden waren die Träger der wirksamsten
unter einer Mehrheit verwandter Bewegungen, welche dem geistigen
Leben der alternden Völker während der römischen Kaiserzeit sein
unterscheidendes Gepräge gaben.

Ein veränderter Gemüthsstand spiegelt sich in der Literatur
der ersten Jahrhunderte nach Christus. Wir sahen denselben vor-
bereitet in der römisch-griechischen Gesellschaft; immer mehr über-
wogen zuerst bei den Griechen, dann bei den Römern die In-
teressen des Privatmenschen, und so löste sich in der alexan-
drinischen Literatur und ihren römischen Nachbildungen die Dar-
stellung des Seelenlebens von dem Zusammenhang der sittlichen und
politischen Ordnung der Gesellschaft ab. Die Innerlichkeit des
Christenthums fand im Seelenleben den Mittelpunkt der Auffassung
und Behandlung der ganzen Wirklichkeit, ja den Eingang in die ge-
heimnißvolle metaphysische Welt. Psychologische Gemälde zogen in
besonderem Grade das Interesse der Leser in den ersten Jahrhunder-
ten nach Christus an sich; Erörterungen der religiösen Erlebnisse
und Gemüthszustände nahmen einen breiten Raum ein; der
Roman, die Meditation, welche das Innere darstellt, die Legende,
welche vielfach auf romanhafte Motive zurückgreift und das Be-
dürfniß der Phantasie in christlichen Kreisen befriedigt, Predigt,
Epistel und Erörterung der Fragen, welche das Wesen des
Menschen und sein Geschick betreffen, standen im Vordergrund der
Literatur. -- Auch stellte die Philosophie immer ausschließlicher die
erlangte Erkenntniß des Kosmos in den Dienst der Gestaltung
des Charakters und der Herstellung eines in sich versöhnten Ge-
müthszustandes. Hatte der Werth der Naturwissenschaften schon
für Epikur hauptsächlich in der Befreiung des Gemüthes von
falschen Vorstellungen gelegen, das Ziel der Philosophie für die
Stoiker in der Bildung des Charakters: jetzt mischten sich in den
Jahrhunderten von dem Zeitalter Christi bis zum Untergang der

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Zweites Kapitel.
Auguſtinus.

Die chriſtlichen Gemeinden waren die Träger der wirkſamſten
unter einer Mehrheit verwandter Bewegungen, welche dem geiſtigen
Leben der alternden Völker während der römiſchen Kaiſerzeit ſein
unterſcheidendes Gepräge gaben.

Ein veränderter Gemüthsſtand ſpiegelt ſich in der Literatur
der erſten Jahrhunderte nach Chriſtus. Wir ſahen denſelben vor-
bereitet in der römiſch-griechiſchen Geſellſchaft; immer mehr über-
wogen zuerſt bei den Griechen, dann bei den Römern die In-
tereſſen des Privatmenſchen, und ſo löſte ſich in der alexan-
driniſchen Literatur und ihren römiſchen Nachbildungen die Dar-
ſtellung des Seelenlebens von dem Zuſammenhang der ſittlichen und
politiſchen Ordnung der Geſellſchaft ab. Die Innerlichkeit des
Chriſtenthums fand im Seelenleben den Mittelpunkt der Auffaſſung
und Behandlung der ganzen Wirklichkeit, ja den Eingang in die ge-
heimnißvolle metaphyſiſche Welt. Pſychologiſche Gemälde zogen in
beſonderem Grade das Intereſſe der Leſer in den erſten Jahrhunder-
ten nach Chriſtus an ſich; Erörterungen der religiöſen Erlebniſſe
und Gemüthszuſtände nahmen einen breiten Raum ein; der
Roman, die Meditation, welche das Innere darſtellt, die Legende,
welche vielfach auf romanhafte Motive zurückgreift und das Be-
dürfniß der Phantaſie in chriſtlichen Kreiſen befriedigt, Predigt,
Epiſtel und Erörterung der Fragen, welche das Weſen des
Menſchen und ſein Geſchick betreffen, ſtanden im Vordergrund der
Literatur. — Auch ſtellte die Philoſophie immer ausſchließlicher die
erlangte Erkenntniß des Kosmos in den Dienſt der Geſtaltung
des Charakters und der Herſtellung eines in ſich verſöhnten Ge-
müthszuſtandes. Hatte der Werth der Naturwiſſenſchaften ſchon
für Epikur hauptſächlich in der Befreiung des Gemüthes von
falſchen Vorſtellungen gelegen, das Ziel der Philoſophie für die
Stoiker in der Bildung des Charakters: jetzt miſchten ſich in den
Jahrhunderten von dem Zeitalter Chriſti bis zum Untergang der

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[322/0345] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. Zweites Kapitel. Auguſtinus. Die chriſtlichen Gemeinden waren die Träger der wirkſamſten unter einer Mehrheit verwandter Bewegungen, welche dem geiſtigen Leben der alternden Völker während der römiſchen Kaiſerzeit ſein unterſcheidendes Gepräge gaben. Ein veränderter Gemüthsſtand ſpiegelt ſich in der Literatur der erſten Jahrhunderte nach Chriſtus. Wir ſahen denſelben vor- bereitet in der römiſch-griechiſchen Geſellſchaft; immer mehr über- wogen zuerſt bei den Griechen, dann bei den Römern die In- tereſſen des Privatmenſchen, und ſo löſte ſich in der alexan- driniſchen Literatur und ihren römiſchen Nachbildungen die Dar- ſtellung des Seelenlebens von dem Zuſammenhang der ſittlichen und politiſchen Ordnung der Geſellſchaft ab. Die Innerlichkeit des Chriſtenthums fand im Seelenleben den Mittelpunkt der Auffaſſung und Behandlung der ganzen Wirklichkeit, ja den Eingang in die ge- heimnißvolle metaphyſiſche Welt. Pſychologiſche Gemälde zogen in beſonderem Grade das Intereſſe der Leſer in den erſten Jahrhunder- ten nach Chriſtus an ſich; Erörterungen der religiöſen Erlebniſſe und Gemüthszuſtände nahmen einen breiten Raum ein; der Roman, die Meditation, welche das Innere darſtellt, die Legende, welche vielfach auf romanhafte Motive zurückgreift und das Be- dürfniß der Phantaſie in chriſtlichen Kreiſen befriedigt, Predigt, Epiſtel und Erörterung der Fragen, welche das Weſen des Menſchen und ſein Geſchick betreffen, ſtanden im Vordergrund der Literatur. — Auch ſtellte die Philoſophie immer ausſchließlicher die erlangte Erkenntniß des Kosmos in den Dienſt der Geſtaltung des Charakters und der Herſtellung eines in ſich verſöhnten Ge- müthszuſtandes. Hatte der Werth der Naturwiſſenſchaften ſchon für Epikur hauptſächlich in der Befreiung des Gemüthes von falſchen Vorſtellungen gelegen, das Ziel der Philoſophie für die Stoiker in der Bildung des Charakters: jetzt miſchten ſich in den Jahrhunderten von dem Zeitalter Chriſti bis zum Untergang der

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/345>, abgerufen am 18.04.2024.