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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Substanz und Kausalität sind nicht Verstandesformen.
lität der Gemüthskräfte gegeben ist, das kann nie von der Intel-
ligenz ganz aufgeklärt werden. Der Differenzirungsprozeß der
Erkenntniß in der fortschreitenden Wissenschaft kann daher als
Vorgang der Abstraktion von immer mehr Elementen dieses Le-
bendigen absehen: jedoch der unlösliche Kern bleibt. So erklären
sich alle Eigenschaften, welche diese beiden Begriffe von Sub-
stanz und Kausalität im Verlauf der Metaphysik gezeigt haben,
und es kann eingesehen werden, daß auch künftig jeder Kunst-
griff des Verstandes diesen Eigenschaften gegenüber machtlos sein
wird. Daher wird ächte Naturwissenschaft diese Begriffe als bloße
Zeichen für ein x, welches ihre Rechnung bedarf, behandeln. Die
Ergänzung dieses Verfahrens liegt dann in der Analysis des Be-
wußtseins, welche den ursprünglichen Werth dieser Zeichen und
die Gründe, aus welchen sie in der naturwissenschaftlichen Rech-
nung erforderlich sind, aufzeigt.

Ganz anders stehen zu diesen Begriffen die Geisteswissen-
schaften. Sie behalten von den Begriffen Substanz und Kausali-
tät nur das rechtmäßiger Weise, was im Selbstbewußtsein und
der inneren Erfahrung gegeben war, und sie geben Alles auf, was
in ihnen aus der Anpassung an die Außenwelt stammte. Sie
dürfen daher von diesen Begriffen keinen direkten Gebrauch zur
Bezeichnung ihrer Gegenstände machen. Ein solcher hat ihnen
oft geschadet und nie an irgend einem Punkte genützt. Denn nie
haben diese abstrakten Begriffe dem Erforscher der menschlichen
Natur über diese mehr sagen können, als in dem Selbstbewußt-
sein gegeben war, aus welchem sie hervorgegangen sind. Selbst
wenn der Begriff von Substanz auf die Seele anwendbar wäre,
vermöchte er nicht einmal die Unsterblichkeit in einer religiösen
Ordnung der Vorstellungen zu begründen. Führt man die Ent-
stehung der Seele auf Gott zurück, so kann was entstanden ist
auch untergehen, oder was sich in einem Vorgang von Emana-
tion ausgesondert hat in die Einheit zurücktreten. Schließt man
aber die Annahme einer Schöpfung oder Ausstrahlung von Seelen-
substanzen aus Gott aus, so fordert die seelische Substanz eine
atheistische Weltordnung: die Seelen sind dann, gleichviel ob
allein ohne Gott oder unabhängig neben Gott, ungewordene Götter.


Subſtanz und Kauſalität ſind nicht Verſtandesformen.
lität der Gemüthskräfte gegeben iſt, das kann nie von der Intel-
ligenz ganz aufgeklärt werden. Der Differenzirungsprozeß der
Erkenntniß in der fortſchreitenden Wiſſenſchaft kann daher als
Vorgang der Abſtraktion von immer mehr Elementen dieſes Le-
bendigen abſehen: jedoch der unlösliche Kern bleibt. So erklären
ſich alle Eigenſchaften, welche dieſe beiden Begriffe von Sub-
ſtanz und Kauſalität im Verlauf der Metaphyſik gezeigt haben,
und es kann eingeſehen werden, daß auch künftig jeder Kunſt-
griff des Verſtandes dieſen Eigenſchaften gegenüber machtlos ſein
wird. Daher wird ächte Naturwiſſenſchaft dieſe Begriffe als bloße
Zeichen für ein x, welches ihre Rechnung bedarf, behandeln. Die
Ergänzung dieſes Verfahrens liegt dann in der Analyſis des Be-
wußtſeins, welche den urſprünglichen Werth dieſer Zeichen und
die Gründe, aus welchen ſie in der naturwiſſenſchaftlichen Rech-
nung erforderlich ſind, aufzeigt.

Ganz anders ſtehen zu dieſen Begriffen die Geiſteswiſſen-
ſchaften. Sie behalten von den Begriffen Subſtanz und Kauſali-
tät nur das rechtmäßiger Weiſe, was im Selbſtbewußtſein und
der inneren Erfahrung gegeben war, und ſie geben Alles auf, was
in ihnen aus der Anpaſſung an die Außenwelt ſtammte. Sie
dürfen daher von dieſen Begriffen keinen direkten Gebrauch zur
Bezeichnung ihrer Gegenſtände machen. Ein ſolcher hat ihnen
oft geſchadet und nie an irgend einem Punkte genützt. Denn nie
haben dieſe abſtrakten Begriffe dem Erforſcher der menſchlichen
Natur über dieſe mehr ſagen können, als in dem Selbſtbewußt-
ſein gegeben war, aus welchem ſie hervorgegangen ſind. Selbſt
wenn der Begriff von Subſtanz auf die Seele anwendbar wäre,
vermöchte er nicht einmal die Unſterblichkeit in einer religiöſen
Ordnung der Vorſtellungen zu begründen. Führt man die Ent-
ſtehung der Seele auf Gott zurück, ſo kann was entſtanden iſt
auch untergehen, oder was ſich in einem Vorgang von Emana-
tion ausgeſondert hat in die Einheit zurücktreten. Schließt man
aber die Annahme einer Schöpfung oder Ausſtrahlung von Seelen-
ſubſtanzen aus Gott aus, ſo fordert die ſeeliſche Subſtanz eine
atheiſtiſche Weltordnung: die Seelen ſind dann, gleichviel ob
allein ohne Gott oder unabhängig neben Gott, ungewordene Götter.


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[511/0534] Subſtanz und Kauſalität ſind nicht Verſtandesformen. lität der Gemüthskräfte gegeben iſt, das kann nie von der Intel- ligenz ganz aufgeklärt werden. Der Differenzirungsprozeß der Erkenntniß in der fortſchreitenden Wiſſenſchaft kann daher als Vorgang der Abſtraktion von immer mehr Elementen dieſes Le- bendigen abſehen: jedoch der unlösliche Kern bleibt. So erklären ſich alle Eigenſchaften, welche dieſe beiden Begriffe von Sub- ſtanz und Kauſalität im Verlauf der Metaphyſik gezeigt haben, und es kann eingeſehen werden, daß auch künftig jeder Kunſt- griff des Verſtandes dieſen Eigenſchaften gegenüber machtlos ſein wird. Daher wird ächte Naturwiſſenſchaft dieſe Begriffe als bloße Zeichen für ein x, welches ihre Rechnung bedarf, behandeln. Die Ergänzung dieſes Verfahrens liegt dann in der Analyſis des Be- wußtſeins, welche den urſprünglichen Werth dieſer Zeichen und die Gründe, aus welchen ſie in der naturwiſſenſchaftlichen Rech- nung erforderlich ſind, aufzeigt. Ganz anders ſtehen zu dieſen Begriffen die Geiſteswiſſen- ſchaften. Sie behalten von den Begriffen Subſtanz und Kauſali- tät nur das rechtmäßiger Weiſe, was im Selbſtbewußtſein und der inneren Erfahrung gegeben war, und ſie geben Alles auf, was in ihnen aus der Anpaſſung an die Außenwelt ſtammte. Sie dürfen daher von dieſen Begriffen keinen direkten Gebrauch zur Bezeichnung ihrer Gegenſtände machen. Ein ſolcher hat ihnen oft geſchadet und nie an irgend einem Punkte genützt. Denn nie haben dieſe abſtrakten Begriffe dem Erforſcher der menſchlichen Natur über dieſe mehr ſagen können, als in dem Selbſtbewußt- ſein gegeben war, aus welchem ſie hervorgegangen ſind. Selbſt wenn der Begriff von Subſtanz auf die Seele anwendbar wäre, vermöchte er nicht einmal die Unſterblichkeit in einer religiöſen Ordnung der Vorſtellungen zu begründen. Führt man die Ent- ſtehung der Seele auf Gott zurück, ſo kann was entſtanden iſt auch untergehen, oder was ſich in einem Vorgang von Emana- tion ausgeſondert hat in die Einheit zurücktreten. Schließt man aber die Annahme einer Schöpfung oder Ausſtrahlung von Seelen- ſubſtanzen aus Gott aus, ſo fordert die ſeeliſche Subſtanz eine atheiſtiſche Weltordnung: die Seelen ſind dann, gleichviel ob allein ohne Gott oder unabhängig neben Gott, ungewordene Götter.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 511. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/534>, abgerufen am 29.03.2024.