Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Die physiologische Psychologie.
und tiefsten Schriften aller Literatur sind diesem Gegenstande ge-
widmet. Sollen sie aber den Charakter der Wissenschaft erlangen:
so führt eine solche Bestrebung zurück in die Selbstbesinnung
über den Zusammenhang zwischen unserer Erkenntniß von der Wirk-
lichkeit der Lebenseinheit und unserem Bewußtsein von den Beziehungen
der Werthe zu einander, welche unser Wille und unser Gefühl im
Leben finden.

An der Grenze der Naturwissenschaften und der Psychologie
hat sich ein Gebiet von Untersuchungen ausgesondert, welches von
seinem ersten genialen Bearbeiter als Psychophysik bezeichnet wor-
den ist und welches sich durch das Zusammenwirken hervorragender
Forscher zu dem Entwurf einer physiologischen Psychologie er-
weitert hat. Diese Wissenschaft ging davon aus, ohne Rücksicht
auf den metaphysischen Streit über Körper und Seele die that-
sächlichen Beziehungen zwischen diesen beiden Erscheinungsgebieten
möglichst genau feststellen zu wollen. Der neutrale, in der äußersten
hier denkbaren Abstraktion verbleibende Begriff der Funktion in
seiner mathematischen Bedeutung wurde hierbei von Fechner zu
Grunde gelegt, und Feststellung der bestehenden so in zwei Rich-
tungen darstellbaren Abhängigkeiten als das Ziel dieser Wissen-
schaft festgehalten. Den Mittelpunkt seiner Untersuchungen bildete
das Funktionsverhältniß zwischen Reiz und Empfindung. Will
jedoch diese Wissenschaft die Lücke, welche zwischen Physiologie und
Psychologie besteht, vollständig ausfüllen, will sie alle Berührungs-
punkte des körperlichen und psychischen Lebens umfassen und
zwischen Physiologie und Psychologie die Verbindung so voll-
ständig und wirksam als möglich herstellen: dann findet sie sich
genöthigt, diese Beziehung in die umfassende Vorstellung des
ursächlichen Zusammenhangs der gesammten Wirklichkeit einzu-
ordnen. Und zwar bildet die einseitige Dependenz psychischer That-
sachen und Veränderungen von physiologischen den Hauptgegenstand
einer solchen physiologischen Psychologie. Sie entwickelt die Ab-
hängigkeit des geistigen Lebens von seiner körperlichen Unterlage;
untersucht die Grenzen, innerhalb deren eine solche Abhängigkeit
nachweisbar ist; stellt alsdann auch die Rückwirkungen dar, welche

Die phyſiologiſche Pſychologie.
und tiefſten Schriften aller Literatur ſind dieſem Gegenſtande ge-
widmet. Sollen ſie aber den Charakter der Wiſſenſchaft erlangen:
ſo führt eine ſolche Beſtrebung zurück in die Selbſtbeſinnung
über den Zuſammenhang zwiſchen unſerer Erkenntniß von der Wirk-
lichkeit der Lebenseinheit und unſerem Bewußtſein von den Beziehungen
der Werthe zu einander, welche unſer Wille und unſer Gefühl im
Leben finden.

An der Grenze der Naturwiſſenſchaften und der Pſychologie
hat ſich ein Gebiet von Unterſuchungen ausgeſondert, welches von
ſeinem erſten genialen Bearbeiter als Pſychophyſik bezeichnet wor-
den iſt und welches ſich durch das Zuſammenwirken hervorragender
Forſcher zu dem Entwurf einer phyſiologiſchen Pſychologie er-
weitert hat. Dieſe Wiſſenſchaft ging davon aus, ohne Rückſicht
auf den metaphyſiſchen Streit über Körper und Seele die that-
ſächlichen Beziehungen zwiſchen dieſen beiden Erſcheinungsgebieten
möglichſt genau feſtſtellen zu wollen. Der neutrale, in der äußerſten
hier denkbaren Abſtraktion verbleibende Begriff der Funktion in
ſeiner mathematiſchen Bedeutung wurde hierbei von Fechner zu
Grunde gelegt, und Feſtſtellung der beſtehenden ſo in zwei Rich-
tungen darſtellbaren Abhängigkeiten als das Ziel dieſer Wiſſen-
ſchaft feſtgehalten. Den Mittelpunkt ſeiner Unterſuchungen bildete
das Funktionsverhältniß zwiſchen Reiz und Empfindung. Will
jedoch dieſe Wiſſenſchaft die Lücke, welche zwiſchen Phyſiologie und
Pſychologie beſteht, vollſtändig ausfüllen, will ſie alle Berührungs-
punkte des körperlichen und pſychiſchen Lebens umfaſſen und
zwiſchen Phyſiologie und Pſychologie die Verbindung ſo voll-
ſtändig und wirkſam als möglich herſtellen: dann findet ſie ſich
genöthigt, dieſe Beziehung in die umfaſſende Vorſtellung des
urſächlichen Zuſammenhangs der geſammten Wirklichkeit einzu-
ordnen. Und zwar bildet die einſeitige Dependenz pſychiſcher That-
ſachen und Veränderungen von phyſiologiſchen den Hauptgegenſtand
einer ſolchen phyſiologiſchen Pſychologie. Sie entwickelt die Ab-
hängigkeit des geiſtigen Lebens von ſeiner körperlichen Unterlage;
unterſucht die Grenzen, innerhalb deren eine ſolche Abhängigkeit
nachweisbar iſt; ſtellt alsdann auch die Rückwirkungen dar, welche

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0066" n="43"/><fw place="top" type="header">Die phy&#x017F;iologi&#x017F;che P&#x017F;ychologie.</fw><lb/>
und tief&#x017F;ten Schriften aller Literatur &#x017F;ind die&#x017F;em Gegen&#x017F;tande ge-<lb/>
widmet. Sollen &#x017F;ie aber den Charakter der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft erlangen:<lb/>
&#x017F;o führt eine &#x017F;olche Be&#x017F;trebung zurück in die Selb&#x017F;tbe&#x017F;innung<lb/>
über den Zu&#x017F;ammenhang zwi&#x017F;chen un&#x017F;erer Erkenntniß von der Wirk-<lb/>
lichkeit der Lebenseinheit und un&#x017F;erem Bewußt&#x017F;ein von den Beziehungen<lb/>
der Werthe zu einander, welche un&#x017F;er Wille und un&#x017F;er Gefühl im<lb/>
Leben finden.</p><lb/>
          <p>An der Grenze der Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften und der P&#x017F;ychologie<lb/>
hat &#x017F;ich ein Gebiet von Unter&#x017F;uchungen ausge&#x017F;ondert, welches von<lb/>
&#x017F;einem er&#x017F;ten genialen Bearbeiter als P&#x017F;ychophy&#x017F;ik bezeichnet wor-<lb/>
den i&#x017F;t und welches &#x017F;ich durch das Zu&#x017F;ammenwirken hervorragender<lb/>
For&#x017F;cher zu dem Entwurf einer phy&#x017F;iologi&#x017F;chen P&#x017F;ychologie er-<lb/>
weitert hat. Die&#x017F;e Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft ging davon aus, ohne Rück&#x017F;icht<lb/>
auf den metaphy&#x017F;i&#x017F;chen Streit über Körper und Seele die that-<lb/>
&#x017F;ächlichen Beziehungen zwi&#x017F;chen die&#x017F;en beiden Er&#x017F;cheinungsgebieten<lb/>
möglich&#x017F;t genau fe&#x017F;t&#x017F;tellen zu wollen. Der neutrale, in der äußer&#x017F;ten<lb/>
hier denkbaren Ab&#x017F;traktion verbleibende Begriff der Funktion in<lb/>
&#x017F;einer mathemati&#x017F;chen Bedeutung wurde hierbei von Fechner zu<lb/>
Grunde gelegt, und Fe&#x017F;t&#x017F;tellung der be&#x017F;tehenden &#x017F;o in zwei Rich-<lb/>
tungen dar&#x017F;tellbaren Abhängigkeiten als das Ziel die&#x017F;er Wi&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
&#x017F;chaft fe&#x017F;tgehalten. Den Mittelpunkt &#x017F;einer Unter&#x017F;uchungen bildete<lb/>
das Funktionsverhältniß zwi&#x017F;chen Reiz und Empfindung. Will<lb/>
jedoch die&#x017F;e Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft die Lücke, welche zwi&#x017F;chen Phy&#x017F;iologie und<lb/>
P&#x017F;ychologie be&#x017F;teht, voll&#x017F;tändig ausfüllen, will &#x017F;ie alle Berührungs-<lb/>
punkte des körperlichen und p&#x017F;ychi&#x017F;chen Lebens umfa&#x017F;&#x017F;en und<lb/>
zwi&#x017F;chen Phy&#x017F;iologie und P&#x017F;ychologie die Verbindung &#x017F;o voll-<lb/>
&#x017F;tändig und wirk&#x017F;am als möglich her&#x017F;tellen: dann findet &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
genöthigt, die&#x017F;e Beziehung in die umfa&#x017F;&#x017F;ende Vor&#x017F;tellung des<lb/>
ur&#x017F;ächlichen Zu&#x017F;ammenhangs der ge&#x017F;ammten Wirklichkeit einzu-<lb/>
ordnen. Und zwar bildet die ein&#x017F;eitige Dependenz p&#x017F;ychi&#x017F;cher That-<lb/>
&#x017F;achen und Veränderungen von phy&#x017F;iologi&#x017F;chen den Hauptgegen&#x017F;tand<lb/>
einer &#x017F;olchen phy&#x017F;iologi&#x017F;chen P&#x017F;ychologie. Sie entwickelt die Ab-<lb/>
hängigkeit des gei&#x017F;tigen Lebens von &#x017F;einer körperlichen Unterlage;<lb/>
unter&#x017F;ucht die Grenzen, innerhalb deren eine &#x017F;olche Abhängigkeit<lb/>
nachweisbar i&#x017F;t; &#x017F;tellt alsdann auch die Rückwirkungen dar, welche<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[43/0066] Die phyſiologiſche Pſychologie. und tiefſten Schriften aller Literatur ſind dieſem Gegenſtande ge- widmet. Sollen ſie aber den Charakter der Wiſſenſchaft erlangen: ſo führt eine ſolche Beſtrebung zurück in die Selbſtbeſinnung über den Zuſammenhang zwiſchen unſerer Erkenntniß von der Wirk- lichkeit der Lebenseinheit und unſerem Bewußtſein von den Beziehungen der Werthe zu einander, welche unſer Wille und unſer Gefühl im Leben finden. An der Grenze der Naturwiſſenſchaften und der Pſychologie hat ſich ein Gebiet von Unterſuchungen ausgeſondert, welches von ſeinem erſten genialen Bearbeiter als Pſychophyſik bezeichnet wor- den iſt und welches ſich durch das Zuſammenwirken hervorragender Forſcher zu dem Entwurf einer phyſiologiſchen Pſychologie er- weitert hat. Dieſe Wiſſenſchaft ging davon aus, ohne Rückſicht auf den metaphyſiſchen Streit über Körper und Seele die that- ſächlichen Beziehungen zwiſchen dieſen beiden Erſcheinungsgebieten möglichſt genau feſtſtellen zu wollen. Der neutrale, in der äußerſten hier denkbaren Abſtraktion verbleibende Begriff der Funktion in ſeiner mathematiſchen Bedeutung wurde hierbei von Fechner zu Grunde gelegt, und Feſtſtellung der beſtehenden ſo in zwei Rich- tungen darſtellbaren Abhängigkeiten als das Ziel dieſer Wiſſen- ſchaft feſtgehalten. Den Mittelpunkt ſeiner Unterſuchungen bildete das Funktionsverhältniß zwiſchen Reiz und Empfindung. Will jedoch dieſe Wiſſenſchaft die Lücke, welche zwiſchen Phyſiologie und Pſychologie beſteht, vollſtändig ausfüllen, will ſie alle Berührungs- punkte des körperlichen und pſychiſchen Lebens umfaſſen und zwiſchen Phyſiologie und Pſychologie die Verbindung ſo voll- ſtändig und wirkſam als möglich herſtellen: dann findet ſie ſich genöthigt, dieſe Beziehung in die umfaſſende Vorſtellung des urſächlichen Zuſammenhangs der geſammten Wirklichkeit einzu- ordnen. Und zwar bildet die einſeitige Dependenz pſychiſcher That- ſachen und Veränderungen von phyſiologiſchen den Hauptgegenſtand einer ſolchen phyſiologiſchen Pſychologie. Sie entwickelt die Ab- hängigkeit des geiſtigen Lebens von ſeiner körperlichen Unterlage; unterſucht die Grenzen, innerhalb deren eine ſolche Abhängigkeit nachweisbar iſt; ſtellt alsdann auch die Rückwirkungen dar, welche

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/66
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/66>, abgerufen am 28.03.2024.