Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

Bild:
<< vorherige Seite

pdi_400.001
gewähren, entstehen hieraus ästhetische Gesetze einer höheren pdi_400.002
Ordnung.

pdi_400.003

Die Befriedigung im Schaffenden, welche ihn in dem Werke pdi_400.004
ausruhen lässt, ist in ihrem Maasse davon abhängig, in welchem pdi_400.005
Maasse der ganze von ihm erworbene Zusammenhang seines pdi_400.006
Seelenlebens jede ihm mögliche Wirkung auf die schaffenden pdi_400.007
Vorgänge und ihr Endergebniss geübt hat. Dem wird alsdann pdi_400.008
von Seiten des Eindrucks entsprechen, dass ein dichterisches pdi_400.009
Werk nur in dem Grade befriedigt, als es dem, was vom erworbenen pdi_400.010
Zusammenhang des Seelenlebens im Hörer oder Leser pdi_400.011
aufgeregt und ins Spiel gesetzt wird, auch genugthut. Da nun pdi_400.012
dieser erworbene Zusammenhang mit dem Fortschreiten des pdi_400.013
Menschengeschlechtes immer verwickelter wird, so muss folgerecht pdi_400.014
hieraus sich ergeben, dass das poetische Schaffen und der pdi_400.015
poetische Eindruck eine aufsteigende Entwicklung der Poesie pdi_400.016
fordern und hervorbringen. Diese Sätze bezeichnen ein Princip, pdi_400.017
dessen genauere Formel erst nach der Analyse des ästhetischen pdi_400.018
Eindrucks grössere Genauigkeit erhalten kann. Im Einzelnen pdi_400.019
sind volle Wirklichkeit der benützten Bestandtheile und ihrer pdi_400.020
Beziehungen, Ausschaltung, Steigerung und Minderung, Ergänzung pdi_400.021
Principien, an welche nicht nur der Vorgang im Schaffenden, pdi_400.022
sondern auch der ästhetische Eindruck gebunden ist. Von dem pdi_400.023
Vorherrschen des einen oder anderen dieser Principien ist der pdi_400.024
Styl des Dichters abhängig. Hier erkennen wir die psychologischen pdi_400.025
Factoren, welche wichtige Stylunterschiede bedingen. pdi_400.026
Das bedeutsame ästhetische Gesetz, nach welchem in der Dichtung pdi_400.027
besonders die Beziehungen von seelischem Zustand und Bildzusammenhang, pdi_400.028
von Innerem und Aeusserem durch Ergänzung pdi_400.029
auszubilden sind, hat zur Folge den weiteren Satz, dass alle pdi_400.030
Poesie das im Gefühl genossene Leben bildlich macht und in pdi_400.031
das Bildliche der Anschauung die im Gefühl genossene Lebendigkeit pdi_400.032
hineinträgt. So wird von ihr beständig die Totalität des pdi_400.033
Erlebnisses wieder hergestellt. In diesen Sätzen und ihrer vorhergegangenen pdi_400.034
Begründung haben wir die vollständigere psychologische pdi_400.035
Fassung dessen nunmehr vor uns, was ich in der geschichtlichen pdi_400.036
Einleitung als das Schiller'sche Gesetz bezeichnet habe.

pdi_400.001
gewähren, entstehen hieraus ästhetische Gesetze einer höheren pdi_400.002
Ordnung.

pdi_400.003

  Die Befriedigung im Schaffenden, welche ihn in dem Werke pdi_400.004
ausruhen lässt, ist in ihrem Maasse davon abhängig, in welchem pdi_400.005
Maasse der ganze von ihm erworbene Zusammenhang seines pdi_400.006
Seelenlebens jede ihm mögliche Wirkung auf die schaffenden pdi_400.007
Vorgänge und ihr Endergebniss geübt hat. Dem wird alsdann pdi_400.008
von Seiten des Eindrucks entsprechen, dass ein dichterisches pdi_400.009
Werk nur in dem Grade befriedigt, als es dem, was vom erworbenen pdi_400.010
Zusammenhang des Seelenlebens im Hörer oder Leser pdi_400.011
aufgeregt und ins Spiel gesetzt wird, auch genugthut. Da nun pdi_400.012
dieser erworbene Zusammenhang mit dem Fortschreiten des pdi_400.013
Menschengeschlechtes immer verwickelter wird, so muss folgerecht pdi_400.014
hieraus sich ergeben, dass das poetische Schaffen und der pdi_400.015
poetische Eindruck eine aufsteigende Entwicklung der Poesie pdi_400.016
fordern und hervorbringen. Diese Sätze bezeichnen ein Princip, pdi_400.017
dessen genauere Formel erst nach der Analyse des ästhetischen pdi_400.018
Eindrucks grössere Genauigkeit erhalten kann. Im Einzelnen pdi_400.019
sind volle Wirklichkeit der benützten Bestandtheile und ihrer pdi_400.020
Beziehungen, Ausschaltung, Steigerung und Minderung, Ergänzung pdi_400.021
Principien, an welche nicht nur der Vorgang im Schaffenden, pdi_400.022
sondern auch der ästhetische Eindruck gebunden ist. Von dem pdi_400.023
Vorherrschen des einen oder anderen dieser Principien ist der pdi_400.024
Styl des Dichters abhängig. Hier erkennen wir die psychologischen pdi_400.025
Factoren, welche wichtige Stylunterschiede bedingen. pdi_400.026
Das bedeutsame ästhetische Gesetz, nach welchem in der Dichtung pdi_400.027
besonders die Beziehungen von seelischem Zustand und Bildzusammenhang, pdi_400.028
von Innerem und Aeusserem durch Ergänzung pdi_400.029
auszubilden sind, hat zur Folge den weiteren Satz, dass alle pdi_400.030
Poesie das im Gefühl genossene Leben bildlich macht und in pdi_400.031
das Bildliche der Anschauung die im Gefühl genossene Lebendigkeit pdi_400.032
hineinträgt. So wird von ihr beständig die Totalität des pdi_400.033
Erlebnisses wieder hergestellt. In diesen Sätzen und ihrer vorhergegangenen pdi_400.034
Begründung haben wir die vollständigere psychologische pdi_400.035
Fassung dessen nunmehr vor uns, was ich in der geschichtlichen pdi_400.036
Einleitung als das Schiller'sche Gesetz bezeichnet habe.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0102" n="400"/><lb n="pdi_400.001"/>
gewähren, entstehen hieraus ästhetische Gesetze einer höheren <lb n="pdi_400.002"/>
Ordnung.</p>
          <lb n="pdi_400.003"/>
          <p>  Die Befriedigung im Schaffenden, welche ihn in dem Werke <lb n="pdi_400.004"/>
ausruhen lässt, ist in ihrem Maasse davon abhängig, in welchem <lb n="pdi_400.005"/>
Maasse der ganze von ihm erworbene Zusammenhang seines <lb n="pdi_400.006"/>
Seelenlebens jede ihm mögliche Wirkung auf die schaffenden <lb n="pdi_400.007"/>
Vorgänge und ihr Endergebniss geübt hat. Dem wird alsdann <lb n="pdi_400.008"/>
von Seiten des Eindrucks entsprechen, dass ein dichterisches <lb n="pdi_400.009"/>
Werk nur in dem Grade befriedigt, als es dem, was vom erworbenen <lb n="pdi_400.010"/>
Zusammenhang des Seelenlebens im Hörer oder Leser <lb n="pdi_400.011"/>
aufgeregt und ins Spiel gesetzt wird, auch genugthut. Da nun <lb n="pdi_400.012"/>
dieser erworbene Zusammenhang mit dem Fortschreiten des <lb n="pdi_400.013"/>
Menschengeschlechtes immer verwickelter wird, so muss folgerecht <lb n="pdi_400.014"/>
hieraus sich ergeben, dass das poetische Schaffen und der <lb n="pdi_400.015"/>
poetische Eindruck eine <hi rendition="#g">aufsteigende Entwicklung</hi> der <hi rendition="#g">Poesie</hi> <lb n="pdi_400.016"/>
fordern und hervorbringen. Diese Sätze bezeichnen ein Princip, <lb n="pdi_400.017"/>
dessen genauere Formel erst nach der Analyse des ästhetischen <lb n="pdi_400.018"/>
Eindrucks grössere Genauigkeit erhalten kann. Im Einzelnen <lb n="pdi_400.019"/>
sind volle Wirklichkeit der benützten Bestandtheile und ihrer <lb n="pdi_400.020"/>
Beziehungen, Ausschaltung, Steigerung und Minderung, Ergänzung <lb n="pdi_400.021"/>
Principien, an welche nicht nur der Vorgang im Schaffenden, <lb n="pdi_400.022"/>
sondern auch der ästhetische Eindruck gebunden ist. Von dem <lb n="pdi_400.023"/>
Vorherrschen des einen oder anderen dieser Principien ist der <lb n="pdi_400.024"/>
Styl des Dichters abhängig. Hier erkennen wir die psychologischen <lb n="pdi_400.025"/>
Factoren, welche wichtige Stylunterschiede bedingen. <lb n="pdi_400.026"/>
Das bedeutsame ästhetische Gesetz, nach welchem in der Dichtung <lb n="pdi_400.027"/>
besonders die Beziehungen von seelischem Zustand und Bildzusammenhang, <lb n="pdi_400.028"/>
von Innerem und Aeusserem durch Ergänzung <lb n="pdi_400.029"/>
auszubilden sind, hat zur Folge den weiteren Satz, dass alle <lb n="pdi_400.030"/>
Poesie das im Gefühl genossene Leben bildlich macht und in <lb n="pdi_400.031"/>
das Bildliche der Anschauung die im Gefühl genossene Lebendigkeit <lb n="pdi_400.032"/>
hineinträgt. So wird von ihr beständig die Totalität des <lb n="pdi_400.033"/>
Erlebnisses wieder hergestellt. In diesen Sätzen und ihrer vorhergegangenen <lb n="pdi_400.034"/>
Begründung haben wir die vollständigere psychologische <lb n="pdi_400.035"/>
Fassung dessen nunmehr vor uns, was ich in der geschichtlichen <lb n="pdi_400.036"/>
Einleitung als das Schiller'sche Gesetz bezeichnet habe.</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[400/0102] pdi_400.001 gewähren, entstehen hieraus ästhetische Gesetze einer höheren pdi_400.002 Ordnung. pdi_400.003   Die Befriedigung im Schaffenden, welche ihn in dem Werke pdi_400.004 ausruhen lässt, ist in ihrem Maasse davon abhängig, in welchem pdi_400.005 Maasse der ganze von ihm erworbene Zusammenhang seines pdi_400.006 Seelenlebens jede ihm mögliche Wirkung auf die schaffenden pdi_400.007 Vorgänge und ihr Endergebniss geübt hat. Dem wird alsdann pdi_400.008 von Seiten des Eindrucks entsprechen, dass ein dichterisches pdi_400.009 Werk nur in dem Grade befriedigt, als es dem, was vom erworbenen pdi_400.010 Zusammenhang des Seelenlebens im Hörer oder Leser pdi_400.011 aufgeregt und ins Spiel gesetzt wird, auch genugthut. Da nun pdi_400.012 dieser erworbene Zusammenhang mit dem Fortschreiten des pdi_400.013 Menschengeschlechtes immer verwickelter wird, so muss folgerecht pdi_400.014 hieraus sich ergeben, dass das poetische Schaffen und der pdi_400.015 poetische Eindruck eine aufsteigende Entwicklung der Poesie pdi_400.016 fordern und hervorbringen. Diese Sätze bezeichnen ein Princip, pdi_400.017 dessen genauere Formel erst nach der Analyse des ästhetischen pdi_400.018 Eindrucks grössere Genauigkeit erhalten kann. Im Einzelnen pdi_400.019 sind volle Wirklichkeit der benützten Bestandtheile und ihrer pdi_400.020 Beziehungen, Ausschaltung, Steigerung und Minderung, Ergänzung pdi_400.021 Principien, an welche nicht nur der Vorgang im Schaffenden, pdi_400.022 sondern auch der ästhetische Eindruck gebunden ist. Von dem pdi_400.023 Vorherrschen des einen oder anderen dieser Principien ist der pdi_400.024 Styl des Dichters abhängig. Hier erkennen wir die psychologischen pdi_400.025 Factoren, welche wichtige Stylunterschiede bedingen. pdi_400.026 Das bedeutsame ästhetische Gesetz, nach welchem in der Dichtung pdi_400.027 besonders die Beziehungen von seelischem Zustand und Bildzusammenhang, pdi_400.028 von Innerem und Aeusserem durch Ergänzung pdi_400.029 auszubilden sind, hat zur Folge den weiteren Satz, dass alle pdi_400.030 Poesie das im Gefühl genossene Leben bildlich macht und in pdi_400.031 das Bildliche der Anschauung die im Gefühl genossene Lebendigkeit pdi_400.032 hineinträgt. So wird von ihr beständig die Totalität des pdi_400.033 Erlebnisses wieder hergestellt. In diesen Sätzen und ihrer vorhergegangenen pdi_400.034 Begründung haben wir die vollständigere psychologische pdi_400.035 Fassung dessen nunmehr vor uns, was ich in der geschichtlichen pdi_400.036 Einleitung als das Schiller'sche Gesetz bezeichnet habe.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/102
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 400. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/102>, abgerufen am 20.04.2024.