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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

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dabei vom Einfachen zum Zusammengesetzten voran. So gelangen pdi_401.007
wir zu den Selbstzeugnissen des ästhetischen Schaffens, pdi_401.008
welche wir von Dichtern besitzen. Ich gebe die folgenden; pdi_401.009
Andere mögen deren Zahl vermehren, damit eine vollständige pdi_401.010
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als Urphänomene des dichterischen Schaffens betrachtet werden. pdi_401.014
Auf die Vorgänge von Unterscheiden, Vergleichen, Verschmelzung, pdi_401.015
Association, Apperception etc. können sie augenscheinlich nicht pdi_401.016
zurückgeführt werden. Goethe beschreibt sie so1): "Ich hatte die pdi_401.017
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mir in die Mitte des Sehorgans eine Blume dachte, so verharrte pdi_401.019
sie nicht einen Augenblick in ihrer ersten Gestalt, sondern sie pdi_401.020
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es waren keine natürlichen Blumen, sondern phantastische, jedoch pdi_401.023
regelmässig, wie die Rosetten der Bildhauer. Es war unmöglich, pdi_401.024
die hervorquellende Schöpfung zu fixiren, hingegen dauerte pdi_401.025
sie so lange als mir beliebte, ermattete nicht und verstärkte pdi_401.026
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Nebeln ausgehn; die Vertheilung der Empfindungselemente

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von Ausschaltung, Steigerung und Ergänzung, indem wir pdi_401.004
das Gebiet durchmustern, in welchem Bilder frei werden und pdi_401.005
sich wie im leeren Raume ungehindert entfalten. Wir schreiten pdi_401.006
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welche wir von Dichtern besitzen. Ich gebe die folgenden; pdi_401.009
Andere mögen deren Zahl vermehren, damit eine vollständige pdi_401.010
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  Der einfachste Fall solcher Entfaltung liegt in den pdi_401.012
Schlummerbildern. Diese können, mit Goethe zu reden, pdi_401.013
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Gabe, wenn ich die Augen schloss und mit niedergesenktem Haupte pdi_401.018
mir in die Mitte des Sehorgans eine Blume dachte, so verharrte pdi_401.019
sie nicht einen Augenblick in ihrer ersten Gestalt, sondern sie pdi_401.020
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es waren keine natürlichen Blumen, sondern phantastische, jedoch pdi_401.023
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sie so lange als mir beliebte, ermattete nicht und verstärkte pdi_401.026
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denn ebenfalls aus der Mitte gegen die Peripherie sich pdi_401.029
immerfort veränderte.“ Vergleiche ich diese und andere Schilderungen pdi_401.030
der Schlummerbilder, wie besonders die classische von pdi_401.031
Joh. Müller (phantast. Gesichtserscheinungen, S. 20), mit meinen pdi_401.032
eigenen Erfahrungen, dann muss ich zur Erklärung von der pdi_401.033
stillen Aufmerksamkeit auf das ganze Sehfeld mit seinen farbigen pdi_401.034
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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 401. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/103>, abgerufen am 29.03.2024.