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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

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Idee." Alfieri erzählt von sich in seiner Selbstbiographie, pdi_406.005
die meisten seiner Tragödien seien ihm während oder nach dem pdi_406.006
Anhören von Musik aufgegangen. Und Kleist bemerkt: "Ich pdi_406.007
betrachte die Musik als die Wurzel oder vielmehr, um mich pdi_406.008
schulgerecht auszusprechen, als die algebraische Formel aller pdi_406.009
übrigen Künste, und so wie wir schon einen Dichter haben pdi_406.010
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auf Farben bezogen hat, so habe ich von meiner frühesten pdi_406.012
Jugend an alles Allgemeine, was ich über die Dichtkunst gedacht pdi_406.013
habe, auf Töne bezogen. Ich glaube, dass im Generalbass die pdi_406.014
wichtigsten Aufschlüsse über die Dichtkunst enthalten sind." pdi_406.015
"Wenn ein Werk nur recht frei aus dem Schoos des menschlichen pdi_406.016
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ganzen Menschheit angehören."

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Fügt man das in diesen Bekenntnissen über das Verhältniss pdi_406.019
der Gefühle und Stimmungen zu den dichterischen Bildern Enthaltene pdi_406.020
an die vorhergehenden über die Entfaltung der Bilder und pdi_406.021
ihrer Beziehungen, dann erscheinen mir die öfters schon herausgehobenen pdi_406.022
Selbstbekenntnisse Otto Ludwigs nicht mehr so pdi_406.023
paradox, obwohl ja Ueberreizung seines Nervensystems nicht pdi_406.024
ohne Einfluss auf die von ihm dargelegten Vorgänge dichterischen pdi_406.025
Schaffens in seiner Seele gewesen ist. Von den drei pdi_406.026
Berichten, welche er darüber gegeben hat1), ist der vollständigste pdi_406.027
und klarste der folgende: "Mein Verfahren ist dies: es pdi_406.028
geht eine Stimmung voraus, eine musikalische, die wird mir pdi_406.029
zur Farbe, dann seh' ich Gestalten, eine oder mehre in irgend pdi_406.030
einer Stellung und Geberdung für sich oder gegen einander, pdi_406.031
und dies wie einen Kupferstich auf Papier von jener Farbe, oder pdi_406.032
genauer ausgedrückt, wie eine Marmorstatue oder plastische

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In den Skizzen und Fragmenten ein Bericht aus dem Tagebuch pdi_406.034
des Dichters März 1840, (Nachlass I 45), Shakespearestudien (II 303), und pdi_406.035
aus dem Nachlasse "zum Verständniss der eigentümlichen Methode von pdi_406.036
O. Ludwig's Schaffen", I 134.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 406. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/108>, abgerufen am 28.03.2024.