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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

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Dichters, dies Typische hervorzubringen. In der Induction der pdi_413.003
Wissenschaft ist das Durchlaufen der Fälle nur das Hilfsmittel, pdi_413.004
um die Nothwendigkeit des Causalzusammenhangs, die schon pdi_413.005
im ersten Falle lag und nur nicht rein ausgesondert werden konnte, pdi_413.006
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in dem Dichter vollbracht ist, ehe ihm noch sein Stoff gegenübertritt, pdi_413.008
lässt ihn die todte Facticität desselben in einer nothwendigen pdi_413.009
Folge von Momenten mit höchster Lebendigkeit und pdi_413.010
Einfachheit nachbilden. Auch hier liegt das Nothwendige in der pdi_413.011
zwingenden Verknüpfung, welche Hörer oder Leser überzeugend pdi_413.012
mit sich zieht, und das Allgemeingültige ist die Art, wie das pdi_413.013
Nothwendige dann für Alle da ist.

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Die Personen handeln nothwendig, wenn der Leser oder Zuschauer pdi_413.015
fühlt, dass er auch so handeln würde. Die Nothwendigkeit pdi_413.016
widerspricht daher nicht dem Eindruck der Freiheit. Vielmehr pdi_413.017
wird dieser insbesondere bei Shakespeare echt protestantisch dadurch pdi_413.018
gesteigert, dass selbst seine Bösewichter die Forderung des pdi_413.019
Sittengesetzes sich vorhalten und wissentlich, willentlich verletzen. pdi_413.020
Diese Nothwendigkeit ist also im Einklang mit der pdi_413.021
Freiheit; jede wahre und grosse Dichtung lässt uns Beides pdi_413.022
zugleich fühlen. Wir fühlen und bilden in uns eine Verkettung pdi_413.023
der Gemüthszustände nach, in welcher einer von dem anderen pdi_413.024
erwirkt wird und Ein Zug folgerichtiger Leidenschaft durch das pdi_413.025
Ganze hindurchgeht. Aber die Art des Erwirkens ist ganz von pdi_413.026
der unterschieden, mit welcher Prämissen einen Schlusssatz erzwingen; pdi_413.027
das Innewerden dieses anderen Charakters der Verknüpfung pdi_413.028
der Glieder ist die Thatsache, die wir als Freiheit pdi_413.029
ausdrücken. Aeusserlich stellt sich dies in den Monologen dar, pdi_413.030
in welchen ein Entschluss sich vorbereitet. Niemand hat anhaltender pdi_413.031
gerungen, dies Zusammen von Nothwendigkeit und pdi_413.032
Freiheit in der Tragödie zum Ausdruck zu bringen, als der edle pdi_413.033
Schiller, auch darin Kant's bester Schüler, im Wallenstein.

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Die Kategorie des Wesenhaften wird wie die von Substanz pdi_413.035
und Ursache, aus der inneren Erfahrung in die äussere übertragen pdi_413.036
und bezeichnet zunächst den Inbegriff der Züge, in dem

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  So zeigt sich nun als das Problem jeder Technik eines pdi_413.002
Dichters, dies Typische hervorzubringen. In der Induction der pdi_413.003
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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 413. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/115>, abgerufen am 24.04.2024.