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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

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Hieraus folgt die Zweiseitigkeit der poetischen pdi_422.002
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In ihr wirkt unwillkürliches unablässiges Bilden und pdi_422.003
zugleich die Berechnung des Eindrucks sowie der Mittel, ihn herbeizuführen. pdi_422.004
Beides ist im Dichter vereinbar; denn die verstandesmässige pdi_422.005
Technik, welche den poetischen Eindruck hervorrufen will, pdi_422.006
muss dieselbe Metamorphose der Bilder anstreben, welche aus dem pdi_422.007
unwillkürlichen und nicht vollbewussten Bilden von selber hervorgeht; pdi_422.008
sie kann dabei die Wirkungen klarer berechnen und pdi_422.009
schärfer zuspitzen. Daher finden wir in Dichtern, die auf der pdi_422.010
Bühne zu Hause waren, wie die griechischen Tragiker, Shakespeare pdi_422.011
oder Moliere, den berechnenden Verstand untrennbar mit pdi_422.012
dem unwillkürlichen Schaffen verbunden. So ergiebt sich das pdi_422.013
technische Gesetz: die Absicht, welche für den Eindruck pdi_422.014
die Mittel berechnet, muss hinter dem Scheine ganz unwillkürlichen pdi_422.015
Gestaltens und freier Wirklichkeit verschwinden. Bei den grossen pdi_422.016
Dramatikern wie Shakespeare und Moliere ist der Kunstverstand pdi_422.017
allgegenwärtig, doch möglichst verborgen, und auf dieser gänzlichen pdi_422.018
Durchdringung des Theatralischen und des Poetischen beruhen pdi_422.019
ihre wunderbaren Wirkungen auf dem Theater. Dagegen pdi_422.020
Goethe suchte für jedes neue Problem eine entsprechende Form. pdi_422.021
Er tadelte dies selbst in Italien an sich als einen Zug von Dilettantismus. pdi_422.022
Auch hat er die neuen von ihm geschaffenen Formen pdi_422.023
nicht seiner erstaunlichen poetischen Intention entsprechend rein pdi_422.024
und völlig ausbilden können, weder im Faust noch im Meister. pdi_422.025
Um so reiner und machtvoller tritt bei ihm die poetisch bildende pdi_422.026
Phantasie heraus. Schiller hat dies Verfahren Goethe's richtig pdi_422.027
so geschildert: "Ihre eigene Art, zwischen Reflexion und Production pdi_422.028
zu alterniren, ist wirklich beneidens- und bewundernswerth. pdi_422.029
Beide Geschäfte trennen sich in Ihnen ganz, und das eben pdi_422.030
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ist bloss in Ihnen: und wenn Sie anfangen zu reflectiren, so tritt pdi_422.033
das innere Licht aus Ihnen heraus und bestrahlt die Gegenstände, pdi_422.034
Ihnen und Anderen."

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Seelenvorgängen
und deren innerem Verhältniss im

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  Hieraus folgt die Zweiseitigkeit der poetischen pdi_422.002
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Goethe suchte für jedes neue Problem eine entsprechende Form. pdi_422.021
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Um so reiner und machtvoller tritt bei ihm die poetisch bildende pdi_422.026
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zu alterniren, ist wirklich beneidens- und bewundernswerth. pdi_422.029
Beide Geschäfte trennen sich in Ihnen ganz, und das eben pdi_422.030
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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/124>, abgerufen am 25.04.2024.