Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

Bild:
<< vorherige Seite

pdi_434.001
in die geschlossene Form der Handlung ein, sondern selbstherrlich pdi_434.002
bestimmt sie das Gefüge einer Form, in welcher sie sich pdi_434.003
auszuleben vermag. Man kann also nur aus dem geschichtlich pdi_434.004
erarbeiteten Gehalte des Dramas die ihm zugehörige Form ververständlich pdi_434.005
machen. Sie ist nicht allgemeingültig, sondern pdi_434.006
relativ und geschichtlich.

pdi_434.007

3. Das Erlebniss ist Grundlage der Poesie, und so zeigt pdi_434.008
die niedrigste Civilisation überall die Dichtung mit primären pdi_434.009
mächtigen Formen des Erlebnisses verbunden; pdi_434.010
solche sind Cultushandlung, Festesfreude, Tanz, übergehend pdi_434.011
in Pantomime, Gedächtniss der Stammesahnen; hier sind pdi_434.012
schon Lied, Epos und Drama in der Wurzel getrennt.

pdi_434.013

Da mächtige Erregungen der Seele, sofern sie nicht zu pdi_434.014
Willenshandlungen führen, sich in Laut und Geberde, in der pdi_434.015
Verbindung von Sang und Dichtung äussern, so finden wir bei pdi_434.016
den Naturvölkern die Dichtung an Cultushandlungen und Festfreude, pdi_434.017
an Tanz und Spiel gebunden. Der Zusammenhang der pdi_434.018
Poesie mit dem Mythos und religiösen Cultus, mit dem Glanz pdi_434.019
der Feste und der Freude des Spiels, mit schöner, heiterer pdi_434.020
Geselligkeit ist daher psychologisch begründet, in den ersten pdi_434.021
Anfängen der Civilisation sichtbar, und er geht dann durch die pdi_434.022
ganze Literaturgeschichte.

pdi_434.023

Die Lyrik ist überall bei niederer Civilisation vom Gesang pdi_434.024
ungetrennt. Die expansive, offene, heitere Natur des Negers pdi_434.025
lässt Freude und Trauer in recitativischem Sang austönen, und pdi_434.026
Lieder begleiten die mechanischen Thätigkeiten desselben. pdi_434.027
Die Literaturgeschichte darf hoffen, die verschiedenen Stufen pdi_434.028
der Ausbildung von Rhythmus, Reim und Form im Liede pdi_434.029
einmal durch vergleichendes Verfahren feststellen zu können. pdi_434.030
Die amerikanischen Eingeborenen im Osten des Felsengebirges pdi_434.031
haben eine Liedform, in welcher das affectvoll Erregende in einer pdi_434.032
einzigen Zeile ausgedrückt ist, und diese wird dann in endlosen pdi_434.033
Wiederholungen vom Einzelnen und vom Chore gesungen. pdi_434.034
"Wenn ich dem Feinde entgegengehe, zittert die Erde unter pdi_434.035
meinen Füssen", oder "das Haupt des Feindes ist abgeschnitten pdi_434.036
und fällt mir zu Füssen". Eine beliebte poetische Figur ihrer

pdi_434.001
in die geschlossene Form der Handlung ein, sondern selbstherrlich pdi_434.002
bestimmt sie das Gefüge einer Form, in welcher sie sich pdi_434.003
auszuleben vermag. Man kann also nur aus dem geschichtlich pdi_434.004
erarbeiteten Gehalte des Dramas die ihm zugehörige Form ververständlich pdi_434.005
machen. Sie ist nicht allgemeingültig, sondern pdi_434.006
relativ und geschichtlich.

pdi_434.007

  3. Das Erlebniss ist Grundlage der Poesie, und so zeigt pdi_434.008
die niedrigste Civilisation überall die Dichtung mit primären pdi_434.009
mächtigen Formen des Erlebnisses verbunden; pdi_434.010
solche sind Cultushandlung, Festesfreude, Tanz, übergehend pdi_434.011
in Pantomime, Gedächtniss der Stammesahnen; hier sind pdi_434.012
schon Lied, Epos und Drama in der Wurzel getrennt.

pdi_434.013

  Da mächtige Erregungen der Seele, sofern sie nicht zu pdi_434.014
Willenshandlungen führen, sich in Laut und Geberde, in der pdi_434.015
Verbindung von Sang und Dichtung äussern, so finden wir bei pdi_434.016
den Naturvölkern die Dichtung an Cultushandlungen und Festfreude, pdi_434.017
an Tanz und Spiel gebunden. Der Zusammenhang der pdi_434.018
Poesie mit dem Mythos und religiösen Cultus, mit dem Glanz pdi_434.019
der Feste und der Freude des Spiels, mit schöner, heiterer pdi_434.020
Geselligkeit ist daher psychologisch begründet, in den ersten pdi_434.021
Anfängen der Civilisation sichtbar, und er geht dann durch die pdi_434.022
ganze Literaturgeschichte.

pdi_434.023

  Die Lyrik ist überall bei niederer Civilisation vom Gesang pdi_434.024
ungetrennt. Die expansive, offene, heitere Natur des Negers pdi_434.025
lässt Freude und Trauer in recitativischem Sang austönen, und pdi_434.026
Lieder begleiten die mechanischen Thätigkeiten desselben. pdi_434.027
Die Literaturgeschichte darf hoffen, die verschiedenen Stufen pdi_434.028
der Ausbildung von Rhythmus, Reim und Form im Liede pdi_434.029
einmal durch vergleichendes Verfahren feststellen zu können. pdi_434.030
Die amerikanischen Eingeborenen im Osten des Felsengebirges pdi_434.031
haben eine Liedform, in welcher das affectvoll Erregende in einer pdi_434.032
einzigen Zeile ausgedrückt ist, und diese wird dann in endlosen pdi_434.033
Wiederholungen vom Einzelnen und vom Chore gesungen. pdi_434.034
„Wenn ich dem Feinde entgegengehe, zittert die Erde unter pdi_434.035
meinen Füssen“, oder „das Haupt des Feindes ist abgeschnitten pdi_434.036
und fällt mir zu Füssen“. Eine beliebte poetische Figur ihrer

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0136" n="434"/><lb n="pdi_434.001"/>
in die geschlossene Form der Handlung ein, sondern selbstherrlich <lb n="pdi_434.002"/>
bestimmt sie das Gefüge einer Form, in welcher sie sich <lb n="pdi_434.003"/>
auszuleben vermag. Man kann also nur aus dem geschichtlich <lb n="pdi_434.004"/>
erarbeiteten Gehalte des Dramas die ihm zugehörige Form ververständlich <lb n="pdi_434.005"/>
machen. Sie ist nicht allgemeingültig, sondern <lb n="pdi_434.006"/>
relativ und geschichtlich.</p>
          <lb n="pdi_434.007"/>
          <p> <hi rendition="#et">  3. Das Erlebniss ist Grundlage der Poesie, und so zeigt <lb n="pdi_434.008"/>
die niedrigste Civilisation überall die Dichtung mit primären <lb n="pdi_434.009"/>
mächtigen Formen des Erlebnisses verbunden; <lb n="pdi_434.010"/>
solche sind Cultushandlung, Festesfreude, Tanz, übergehend <lb n="pdi_434.011"/>
in Pantomime, Gedächtniss der Stammesahnen; hier sind <lb n="pdi_434.012"/>
schon Lied, Epos und Drama in der Wurzel getrennt.</hi> </p>
          <lb n="pdi_434.013"/>
          <p>  Da mächtige Erregungen der Seele, sofern sie nicht zu <lb n="pdi_434.014"/>
Willenshandlungen führen, sich in Laut und Geberde, in der <lb n="pdi_434.015"/>
Verbindung von Sang und Dichtung äussern, so finden wir bei <lb n="pdi_434.016"/>
den Naturvölkern die Dichtung an Cultushandlungen und Festfreude, <lb n="pdi_434.017"/>
an Tanz und Spiel gebunden. Der Zusammenhang der <lb n="pdi_434.018"/>
Poesie mit dem Mythos und religiösen Cultus, mit dem Glanz <lb n="pdi_434.019"/>
der Feste und der Freude des Spiels, mit schöner, heiterer <lb n="pdi_434.020"/>
Geselligkeit ist daher psychologisch begründet, in den ersten <lb n="pdi_434.021"/>
Anfängen der Civilisation sichtbar, und er geht dann durch die <lb n="pdi_434.022"/>
ganze Literaturgeschichte.</p>
          <lb n="pdi_434.023"/>
          <p>  Die <hi rendition="#g">Lyrik</hi> ist überall bei niederer Civilisation vom Gesang <lb n="pdi_434.024"/>
ungetrennt. Die expansive, offene, heitere Natur des Negers <lb n="pdi_434.025"/>
lässt Freude und Trauer in recitativischem Sang austönen, und <lb n="pdi_434.026"/>
Lieder begleiten die mechanischen Thätigkeiten desselben. <lb n="pdi_434.027"/>
Die Literaturgeschichte darf hoffen, die verschiedenen Stufen <lb n="pdi_434.028"/>
der Ausbildung von Rhythmus, Reim und Form im Liede <lb n="pdi_434.029"/>
einmal durch vergleichendes Verfahren feststellen zu können. <lb n="pdi_434.030"/>
Die amerikanischen Eingeborenen im Osten des Felsengebirges <lb n="pdi_434.031"/>
haben eine Liedform, in welcher das affectvoll Erregende in einer <lb n="pdi_434.032"/>
einzigen Zeile ausgedrückt ist, und diese wird dann in endlosen <lb n="pdi_434.033"/>
Wiederholungen vom Einzelnen und vom Chore gesungen. <lb n="pdi_434.034"/>
&#x201E;Wenn ich dem Feinde entgegengehe, zittert die Erde unter <lb n="pdi_434.035"/>
meinen Füssen&#x201C;, oder &#x201E;das Haupt des Feindes ist abgeschnitten <lb n="pdi_434.036"/>
und fällt mir zu Füssen&#x201C;. Eine beliebte poetische Figur ihrer
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[434/0136] pdi_434.001 in die geschlossene Form der Handlung ein, sondern selbstherrlich pdi_434.002 bestimmt sie das Gefüge einer Form, in welcher sie sich pdi_434.003 auszuleben vermag. Man kann also nur aus dem geschichtlich pdi_434.004 erarbeiteten Gehalte des Dramas die ihm zugehörige Form ververständlich pdi_434.005 machen. Sie ist nicht allgemeingültig, sondern pdi_434.006 relativ und geschichtlich. pdi_434.007   3. Das Erlebniss ist Grundlage der Poesie, und so zeigt pdi_434.008 die niedrigste Civilisation überall die Dichtung mit primären pdi_434.009 mächtigen Formen des Erlebnisses verbunden; pdi_434.010 solche sind Cultushandlung, Festesfreude, Tanz, übergehend pdi_434.011 in Pantomime, Gedächtniss der Stammesahnen; hier sind pdi_434.012 schon Lied, Epos und Drama in der Wurzel getrennt. pdi_434.013   Da mächtige Erregungen der Seele, sofern sie nicht zu pdi_434.014 Willenshandlungen führen, sich in Laut und Geberde, in der pdi_434.015 Verbindung von Sang und Dichtung äussern, so finden wir bei pdi_434.016 den Naturvölkern die Dichtung an Cultushandlungen und Festfreude, pdi_434.017 an Tanz und Spiel gebunden. Der Zusammenhang der pdi_434.018 Poesie mit dem Mythos und religiösen Cultus, mit dem Glanz pdi_434.019 der Feste und der Freude des Spiels, mit schöner, heiterer pdi_434.020 Geselligkeit ist daher psychologisch begründet, in den ersten pdi_434.021 Anfängen der Civilisation sichtbar, und er geht dann durch die pdi_434.022 ganze Literaturgeschichte. pdi_434.023   Die Lyrik ist überall bei niederer Civilisation vom Gesang pdi_434.024 ungetrennt. Die expansive, offene, heitere Natur des Negers pdi_434.025 lässt Freude und Trauer in recitativischem Sang austönen, und pdi_434.026 Lieder begleiten die mechanischen Thätigkeiten desselben. pdi_434.027 Die Literaturgeschichte darf hoffen, die verschiedenen Stufen pdi_434.028 der Ausbildung von Rhythmus, Reim und Form im Liede pdi_434.029 einmal durch vergleichendes Verfahren feststellen zu können. pdi_434.030 Die amerikanischen Eingeborenen im Osten des Felsengebirges pdi_434.031 haben eine Liedform, in welcher das affectvoll Erregende in einer pdi_434.032 einzigen Zeile ausgedrückt ist, und diese wird dann in endlosen pdi_434.033 Wiederholungen vom Einzelnen und vom Chore gesungen. pdi_434.034 „Wenn ich dem Feinde entgegengehe, zittert die Erde unter pdi_434.035 meinen Füssen“, oder „das Haupt des Feindes ist abgeschnitten pdi_434.036 und fällt mir zu Füssen“. Eine beliebte poetische Figur ihrer

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/136
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 434. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/136>, abgerufen am 28.03.2024.