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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

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Wirkung der Wiederholung von Worten, den Refrain, die einfache pdi_442.002
Abzählung von Silben etc. (Tylor, Anthrop. S. 343 ff. pdi_442.003
Waitz IV 476).

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Das andere Moment des Mittels, in welchem ein pdi_442.005
Bild als Ganzes auffassbar wird, ist der durch das Gedächtniss pdi_442.006
hergestellte Zusammenhang. Nicht in den verklingenden Worten, pdi_442.007
deren eines das andere verdrängt, sondern in dem, was vermittelst pdi_442.008
ihrer im Hörer sich aufbaut, ist die Handlung, der pdi_442.009
Charakter als Ganzes ausserhalb des Dichters wirklich. In diesem pdi_442.010
Mittel stellt sich nun der Verlauf des Seelenlebens auf die angemessenste pdi_442.011
Weise dar. Handlung, Seelenvorgang sind das der pdi_442.012
Poesie entsprechende Object. Dagegen muss das Simultane des pdi_442.013
Bildes erst durch eine Abfolge hergestellt werden, in welcher pdi_442.014
die einzelnen Bildbestandtheile festgehalten, erinnert, auf einander pdi_442.015
bezogen und an einander gesetzt werden. Da nun nach der pdi_442.016
Natur des ästhetischen Eindrucks jeder Moment für sich Befriedigung pdi_442.017
gewähren soll, eine längere Schilderung aber durch pdi_442.018
unfertige Bestandtheile ermüdet, so muss der Kunstgriff angewandt pdi_442.019
werden, durch Handlungen, welche schon in ihren pdi_442.020
einzelnen Gliedern das Auffassen befriedigend beschäftigen, den pdi_442.021
Bildzusammenhang herzustellen. So wird das Lessing'sche pdi_442.022
Gesetz
in Bezug auf seine Fassung und Begründung eine Fortbildung pdi_442.023
erfahren müssen. Daraus, dass die Worte einander in pdi_442.024
der Zeit folgen, ergiebt sich noch nicht, dass der in der Seele entstehende pdi_442.025
Bildzusammenhang auf das Successive einzuschränken sei.

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Der Folge der Worte entspricht am besten die Handlung, pdi_442.027
da deren einzelne Glieder schon, jedes für sich, pdi_442.028
eine Befriedigung gewähren, während zugleich jedes zum pdi_442.029
Aufbau des Ganzen in der Seele etwas beiträgt. Daher pdi_442.030
ist die Darstellung des Simultanen nur in dem Verhältniss pdi_442.031
Gegenstand der Poesie, als sie entweder naturgemäss pdi_442.032
durch Handlungen bewirkt wird (Charakter) pdi_442.033
oder durch einen Kunstgriff in die Form der Handlung pdi_442.034
gebracht werden kann (äusseres Object, körperliche pdi_442.035
Schönheit).

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6. Wir erörtern nun die Verfahrungsweise, durch

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Wirkung der Wiederholung von Worten, den Refrain, die einfache pdi_442.002
Abzählung von Silben etc. (Tylor, Anthrop. S. 343 ff. pdi_442.003
Waitz IV 476).

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  Das andere Moment des Mittels, in welchem ein pdi_442.005
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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 442. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/144>, abgerufen am 29.03.2024.