Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

Bild:
<< vorherige Seite

pdi_457.001
hat. Dann entsteht die Glaubhaftigkeit, die Wahrscheinlichkeit, pdi_457.002
das Kernhafte in dem Schein des Wirklichen, pdi_457.003
deren Personen und Schicksale bedürfen, um in Mitleid und pdi_457.004
Furcht zu erschüttern.

pdi_457.005

Das Princip der Ausbildung einer Dichtung ist das pdi_457.006
Emporheben von Lebensvorstellungen zu poetisch bedeutsamen pdi_457.007
Bildern und Beziehungen. Der Nexus der pdi_457.008
Handlung oder Begebenheit muss also so viel als möglich pdi_457.009
nur gefühlswirksame Bestandtheile enthalten. Zeit pdi_457.010
und Raum haben hier nur in den sie erfüllenden Handlungen pdi_457.011
und deren Beziehungen ihr Maass. Die Zahl pdi_457.012
der Glieder der Handlung ist so sehr als möglich verringert, pdi_457.013
die unentbehrlichen sind dann aber breit entfaltet.

pdi_457.014
pdi_457.015

11. Aus diesem Princip ergiebt sich als Hauptregel für die pdi_457.016
Technik der Handlung, dass sie nicht eine Abbildung der pdi_457.017
Wirklichkeit erstrebt, sondern unter Ausscheidung der dem pdi_457.018
Gefühl todten Glieder aus gefühlswirksamen Gliedern in weiser pdi_457.019
Oekonomie einen Nexus herstellt, durch welchen der Schein pdi_457.020
der Bewegung des Lebens entsteht. Und zwar ist das Gefüge pdi_457.021
der Vorgänge im Drama eine einheitliche Handlung, in der pdi_457.022
epischen Poesie eine Begebenheit. Aber gleichviel, ob Handlung pdi_457.023
oder Begebenheit: beides ist ein Unwirkliches, das Illusion pdi_457.024
hervorbringt. Während im wirklichen Leben Alles causal pdi_457.025
verkettet auftritt, ist für die Structur der poetischen Handlung pdi_457.026
oder Begebenheit das allgemeinste Gesetz, dass dieselbe pdi_457.027
Anfang und Ende habe, zwischen diesen aber ein einheitlicher pdi_457.028
Zusammenhang ablaufe, dem ähnlich, welchen wir von pdi_457.029
dem Leben selber wünschen. Ohne Schmerz und Hemmung wäre pdi_457.030
das Bild des Lebens schaal und erlogen, aber dieselben sollen pdi_457.031
aufgelöst werden in einem mächtigen und beruhigenden, harmonischen pdi_457.032
Schlussaccord. So bedingt die Anforderung einer, den pdi_457.033
ganzen Umfang des Werkes erfüllenden, allgemeingültigen Gefühlswirkung pdi_457.034
die Structur der Handlung. Sie geht, wo sie ganz pdi_457.035
vollständig ist, aus dem Zustand ruhigen Strebens durch innere pdi_457.036
und äussere Gegenwirkungen in zunehmender Spannung der

pdi_457.001
hat. Dann entsteht die Glaubhaftigkeit, die Wahrscheinlichkeit, pdi_457.002
das Kernhafte in dem Schein des Wirklichen, pdi_457.003
deren Personen und Schicksale bedürfen, um in Mitleid und pdi_457.004
Furcht zu erschüttern.

pdi_457.005

  Das Princip der Ausbildung einer Dichtung ist das pdi_457.006
Emporheben von Lebensvorstellungen zu poetisch bedeutsamen pdi_457.007
Bildern und Beziehungen. Der Nexus der pdi_457.008
Handlung oder Begebenheit muss also so viel als möglich pdi_457.009
nur gefühlswirksame Bestandtheile enthalten. Zeit pdi_457.010
und Raum haben hier nur in den sie erfüllenden Handlungen pdi_457.011
und deren Beziehungen ihr Maass. Die Zahl pdi_457.012
der Glieder der Handlung ist so sehr als möglich verringert, pdi_457.013
die unentbehrlichen sind dann aber breit entfaltet.

pdi_457.014
pdi_457.015

  11. Aus diesem Princip ergiebt sich als Hauptregel für die pdi_457.016
Technik der Handlung, dass sie nicht eine Abbildung der pdi_457.017
Wirklichkeit erstrebt, sondern unter Ausscheidung der dem pdi_457.018
Gefühl todten Glieder aus gefühlswirksamen Gliedern in weiser pdi_457.019
Oekonomie einen Nexus herstellt, durch welchen der Schein pdi_457.020
der Bewegung des Lebens entsteht. Und zwar ist das Gefüge pdi_457.021
der Vorgänge im Drama eine einheitliche Handlung, in der pdi_457.022
epischen Poesie eine Begebenheit. Aber gleichviel, ob Handlung pdi_457.023
oder Begebenheit: beides ist ein Unwirkliches, das Illusion pdi_457.024
hervorbringt. Während im wirklichen Leben Alles causal pdi_457.025
verkettet auftritt, ist für die Structur der poetischen Handlung pdi_457.026
oder Begebenheit das allgemeinste Gesetz, dass dieselbe pdi_457.027
Anfang und Ende habe, zwischen diesen aber ein einheitlicher pdi_457.028
Zusammenhang ablaufe, dem ähnlich, welchen wir von pdi_457.029
dem Leben selber wünschen. Ohne Schmerz und Hemmung wäre pdi_457.030
das Bild des Lebens schaal und erlogen, aber dieselben sollen pdi_457.031
aufgelöst werden in einem mächtigen und beruhigenden, harmonischen pdi_457.032
Schlussaccord. So bedingt die Anforderung einer, den pdi_457.033
ganzen Umfang des Werkes erfüllenden, allgemeingültigen Gefühlswirkung pdi_457.034
die Structur der Handlung. Sie geht, wo sie ganz pdi_457.035
vollständig ist, aus dem Zustand ruhigen Strebens durch innere pdi_457.036
und äussere Gegenwirkungen in zunehmender Spannung der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0159" n="457"/><lb n="pdi_457.001"/>
hat. Dann entsteht die <hi rendition="#g">Glaubhaftigkeit,</hi> die <hi rendition="#g">Wahrscheinlichkeit,</hi> <lb n="pdi_457.002"/>
das Kernhafte in dem Schein des Wirklichen, <lb n="pdi_457.003"/>
deren Personen und Schicksale bedürfen, um in Mitleid und <lb n="pdi_457.004"/>
Furcht zu erschüttern.</p>
          <lb n="pdi_457.005"/>
          <p> <hi rendition="#et">  Das Princip der Ausbildung einer Dichtung ist das <lb n="pdi_457.006"/>
Emporheben von Lebensvorstellungen zu poetisch bedeutsamen <lb n="pdi_457.007"/>
Bildern und Beziehungen. Der Nexus der <lb n="pdi_457.008"/>
Handlung oder Begebenheit muss also so viel als möglich <lb n="pdi_457.009"/>
nur gefühlswirksame Bestandtheile enthalten. Zeit <lb n="pdi_457.010"/>
und Raum haben hier nur in den sie erfüllenden Handlungen <lb n="pdi_457.011"/>
und deren Beziehungen ihr Maass. Die Zahl <lb n="pdi_457.012"/>
der Glieder der Handlung ist so sehr als möglich verringert, <lb n="pdi_457.013"/>
die unentbehrlichen sind dann aber breit entfaltet.</hi> </p>
          <lb n="pdi_457.014"/>
          <lb n="pdi_457.015"/>
          <p>  11. Aus diesem Princip ergiebt sich als Hauptregel für die <lb n="pdi_457.016"/>
Technik der <hi rendition="#g">Handlung,</hi> dass sie nicht eine Abbildung der <lb n="pdi_457.017"/>
Wirklichkeit erstrebt, sondern unter Ausscheidung der dem <lb n="pdi_457.018"/>
Gefühl todten Glieder aus gefühlswirksamen Gliedern in weiser <lb n="pdi_457.019"/>
Oekonomie einen Nexus herstellt, durch welchen der Schein <lb n="pdi_457.020"/>
der Bewegung des Lebens entsteht. Und zwar ist das Gefüge <lb n="pdi_457.021"/>
der Vorgänge im Drama eine einheitliche Handlung, in der <lb n="pdi_457.022"/>
epischen Poesie eine Begebenheit. Aber gleichviel, ob Handlung <lb n="pdi_457.023"/>
oder Begebenheit: beides ist ein Unwirkliches, das Illusion <lb n="pdi_457.024"/>
hervorbringt. Während im wirklichen Leben Alles causal <lb n="pdi_457.025"/>
verkettet auftritt, ist für die Structur der poetischen Handlung <lb n="pdi_457.026"/>
oder Begebenheit das <hi rendition="#g">allgemeinste Gesetz,</hi> dass dieselbe <lb n="pdi_457.027"/>
Anfang und Ende habe, zwischen diesen aber ein einheitlicher <lb n="pdi_457.028"/>
Zusammenhang ablaufe, dem ähnlich, welchen wir von <lb n="pdi_457.029"/>
dem Leben selber wünschen. Ohne Schmerz und Hemmung wäre <lb n="pdi_457.030"/>
das Bild des Lebens schaal und erlogen, aber dieselben sollen <lb n="pdi_457.031"/>
aufgelöst werden in einem mächtigen und beruhigenden, harmonischen <lb n="pdi_457.032"/>
Schlussaccord. So bedingt die Anforderung einer, den <lb n="pdi_457.033"/>
ganzen Umfang des Werkes erfüllenden, allgemeingültigen Gefühlswirkung <lb n="pdi_457.034"/>
die Structur der Handlung. Sie geht, wo sie ganz <lb n="pdi_457.035"/>
vollständig ist, aus dem Zustand ruhigen Strebens durch innere <lb n="pdi_457.036"/>
und äussere Gegenwirkungen in zunehmender Spannung der
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[457/0159] pdi_457.001 hat. Dann entsteht die Glaubhaftigkeit, die Wahrscheinlichkeit, pdi_457.002 das Kernhafte in dem Schein des Wirklichen, pdi_457.003 deren Personen und Schicksale bedürfen, um in Mitleid und pdi_457.004 Furcht zu erschüttern. pdi_457.005   Das Princip der Ausbildung einer Dichtung ist das pdi_457.006 Emporheben von Lebensvorstellungen zu poetisch bedeutsamen pdi_457.007 Bildern und Beziehungen. Der Nexus der pdi_457.008 Handlung oder Begebenheit muss also so viel als möglich pdi_457.009 nur gefühlswirksame Bestandtheile enthalten. Zeit pdi_457.010 und Raum haben hier nur in den sie erfüllenden Handlungen pdi_457.011 und deren Beziehungen ihr Maass. Die Zahl pdi_457.012 der Glieder der Handlung ist so sehr als möglich verringert, pdi_457.013 die unentbehrlichen sind dann aber breit entfaltet. pdi_457.014 pdi_457.015   11. Aus diesem Princip ergiebt sich als Hauptregel für die pdi_457.016 Technik der Handlung, dass sie nicht eine Abbildung der pdi_457.017 Wirklichkeit erstrebt, sondern unter Ausscheidung der dem pdi_457.018 Gefühl todten Glieder aus gefühlswirksamen Gliedern in weiser pdi_457.019 Oekonomie einen Nexus herstellt, durch welchen der Schein pdi_457.020 der Bewegung des Lebens entsteht. Und zwar ist das Gefüge pdi_457.021 der Vorgänge im Drama eine einheitliche Handlung, in der pdi_457.022 epischen Poesie eine Begebenheit. Aber gleichviel, ob Handlung pdi_457.023 oder Begebenheit: beides ist ein Unwirkliches, das Illusion pdi_457.024 hervorbringt. Während im wirklichen Leben Alles causal pdi_457.025 verkettet auftritt, ist für die Structur der poetischen Handlung pdi_457.026 oder Begebenheit das allgemeinste Gesetz, dass dieselbe pdi_457.027 Anfang und Ende habe, zwischen diesen aber ein einheitlicher pdi_457.028 Zusammenhang ablaufe, dem ähnlich, welchen wir von pdi_457.029 dem Leben selber wünschen. Ohne Schmerz und Hemmung wäre pdi_457.030 das Bild des Lebens schaal und erlogen, aber dieselben sollen pdi_457.031 aufgelöst werden in einem mächtigen und beruhigenden, harmonischen pdi_457.032 Schlussaccord. So bedingt die Anforderung einer, den pdi_457.033 ganzen Umfang des Werkes erfüllenden, allgemeingültigen Gefühlswirkung pdi_457.034 die Structur der Handlung. Sie geht, wo sie ganz pdi_457.035 vollständig ist, aus dem Zustand ruhigen Strebens durch innere pdi_457.036 und äussere Gegenwirkungen in zunehmender Spannung der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/159
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 457. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/159>, abgerufen am 19.04.2024.