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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

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Zustand versetzt hat, erscheint dieselbe dem Träumenden als pdi_464.003
ein fremder Körper. Griesinger hat hervorgehoben, wie sich pdi_464.004
bestimmte innere Zustände und Gefühle des Irren in der Vorstellung pdi_464.005
ausdrücken, dass dem Kranken seine Ideen von Andern pdi_464.006
"gemacht" oder "abgezogen" würden, und Lazarus hat darauf pdi_464.007
aufmerksam gemacht, dass bei Naturvölkern entsprechende Vorstellungen pdi_464.008
auftreten. So drückt sich in einem Kreis armer, pdi_464.009
verkümmerter Symbole der Kreis der inneren Zustände des pdi_464.010
Irren aus. Reicher, freier entfaltet sich diese Beziehung in pdi_464.011
Sprache, Mythos und Poesie, aber dennoch gesetzmässig. So pdi_464.012
ist auch die Zahl der Grundmythen, in welchen aus den Erlebnissen pdi_464.013
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grössten Energie und Freiheit in der Seele des Dichters. Jeder pdi_464.017
Zettel Goethes an Frau von Stein zeigt das: überall Situation, pdi_464.018
Gefühl des Zustandes, Tropus, in dem er sich darstellt. Hieraus pdi_464.019
ergiebt sich, dass das Bild, die Vergleichung, der Tropus nicht pdi_464.020
in der Darstellung hinzutreten, wie Gewand, das über einen pdi_464.021
Körper geworfen wird, vielmehr sind sie dessen natürliche Haut. pdi_464.022
Das Symbolbilden, das die Seele des dichterischen Vorgangs ist, pdi_464.023
erstreckt sich so durch den ganzen Körper der Dichtung bis pdi_464.024
in die Personification und Metapher, die Synecdoche und Metonymie. pdi_464.025
Der unsern Geschmack oft verletzende Bilderreichthum pdi_464.026
Shakespeares oder Calderons ist ungehemmtes Fluthen und pdi_464.027
Strömen dieser beständigen, in Glanz und Licht getauchten pdi_464.028
Bewegung in einer dichterischen Phantasie. [Annotation]

Einer solchen Causalbetrachtung pdi_464.029
können die Formbestimmungen über den Tropus, pdi_464.030
welche uns die Alten hinterlassen haben, Ausgangspunkte einer pdi_464.031
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Wir erläutern dann an den rhetorisch-poetischen Figuren. pdi_464.033
Durch das ganze Schaffen des Dichters geht die pdi_464.034
Wirkung der Gefühle auf die Vorstellungsbewegung. Der pdi_464.035
fiebernde Puls in den Charakteren und der Handlung von pdi_464.036
Shakespeare, der grosse Athem in Schillers dramatischer Handlung

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  Wir erläutern dann an den rhetorisch-poetischen Figuren. pdi_464.033
Durch das ganze Schaffen des Dichters geht die pdi_464.034
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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 464. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/166>, abgerufen am 28.03.2024.