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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

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vor. Und nicht hier allein, sondern ebenso auf dem Gebiet des pdi_327.003
Rechts, der Religion, der Sittlichkeit hat Kant ein natürliches pdi_327.004
oder rationales System angenommen, welches zeitlos gültig in pdi_327.005
seinen Bestimmungen sei. Daher darf auch die Hypothese Kants pdi_327.006
über Ursprung und Entwicklung des Planetensystems so wenig pdi_327.007
als seine Ansicht von der geschichtlichen Entwicklung zur vollkommenen pdi_327.008
bürgerlichen Verfassung uns bestimmen, seinen Standpunkt pdi_327.009
als eine Entwicklungslehre aufzufassen. Im Einverständniss pdi_327.010
mit Kant haben Goethe und Schiller eine allgemeingültige pdi_327.011
Technik aller Poesie auf der Grundlage der ästhetischen pdi_327.012
Begriffe abzuleiten unternommen. Im selben Zuge pdi_327.013
lag Schillers idealischer Mensch, der vermittelst des Schönen pdi_327.014
in sich die höchste Freiheit herstellt. Und dieser idealische pdi_327.015
Mensch ist dann auch bei Goethe, nicht ohne Schillers Mitwirkung, pdi_327.016
als Ziel der Entwicklung in seinen beiden grossen, pdi_327.017
das Leben umspannenden Dichtungen, dem Faust und Meister, pdi_327.018
aufgetreten. Der wunderbare Zauber dieser beiden Werke entspringt pdi_327.019
theilweise aus dem Heraufheben eines Strebens im Engen, pdi_327.020
Wirklichen, thatsächlich Bedingten, wie es Goethes realistischer pdi_327.021
Natur zusagte, zu dieser reinen Idealität. Dieses allgemeingültige pdi_327.022
Ideal der Humanität ist, historisch angesehen, der tiefste pdi_327.023
Gehalt unserer deutschen Dichtung.

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Diesem Standpunkte gegenüber hat Herder, der Begründer pdi_327.025
unserer historischen Schule, die geschichtliche Mannigfaltigkeit des pdi_327.026
nationalen Geschmacks nicht minder einseitig geltend gemacht. Er pdi_327.027
nahm seinen Ausgangspunkt in dichterischen Werken, die ganz pdi_327.028
ausserhalb des Gesichtskreises der technischen Poetik gelegen pdi_327.029
hatten. Diese hatte aus den Dichtungen der Alten Formen und pdi_327.030
Regeln abstrahirt. Er fand gleichsam die Urzelle der Poesie in pdi_327.031
dem Naturlaut und lyrischen Gang des Volkslieds, der hebräischen pdi_327.032
Poesie, der Dichtung von Naturvölkern. Er sah den Keim der pdi_327.033
Dichtung in dem Musicalischen, Lyrischen. So erfasste er die pdi_327.034
dem Anschaulichen gegenüberliegende andere Seite aller Dichtung, pdi_327.035
die bisher nicht beachtet worden war. Und hier hat er pdi_327.036
mit einziger Zartheit des Gefühls nachempfunden, wie aus der

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dort schwebt Kant ein zeitlos gültiges System von Bestimmungen pdi_327.002
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Natur zusagte, zu dieser reinen Idealität. Dieses allgemeingültige pdi_327.022
Ideal der Humanität ist, historisch angesehen, der tiefste pdi_327.023
Gehalt unserer deutschen Dichtung.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/29>, abgerufen am 25.04.2024.