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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

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sowie die Zeugnisse über diese Vorgänge uns pdi_334.003
gegenwärtig sind, indem wir die so erlangten psychologischen pdi_334.004
Einsichten alsdann in die äussere Geschichte der Ausbildung pdi_334.005
von Dichtungen übertragen, indem wir endlich die fertige durchsichtige pdi_334.006
Gestalt der Dichtungen zergliedern und hierdurch die pdi_334.007
Einsicht in die Genesis vervollständigen und bestätigen: eröffnet pdi_334.008
sich auf diesem Gebiet eine hinreissende Aussicht; hier vielleicht pdi_334.009
wird es zuerst gelingen, eine Causalerklärung aus den erzeugenden pdi_334.010
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zu stehen, welche vielleicht ihr zuerst die innere pdi_334.012
Erklärung eines geistig-geschichtlichen Ganzen nach causaler pdi_334.013
Methode ermöglichen.

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Auch kann allein von einem solchen Verfahren gehofft werden, pdi_334.015
dass es die centralen Fragen der Poetik, mit denen pdi_334.016
wir die ästhetische Speculation ringen sahen, zur Entscheidung pdi_334.017
bringe und die Poetik so gestalte, dass sie zur Verwerthung befähigt pdi_334.018
wird. Der Zusammenhang zwischen dieser inneren oder pdi_334.019
psychologischen Methode, den centralen Fragen der Poetik und pdi_334.020
ihrer thatsächlichen Verwerthbarkeit kann hier nur an folgenden pdi_334.021
drei Problemen angedeutet werden.

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Der selbständige Werth der Dichtung, die Function, welche pdi_334.023
sie in der Gesellschaft hat, kann nach jener äusseren empirischen pdi_334.024
Methode niemals aufgezeigt werden. Wollte der Geist sich seine pdi_334.025
eigenen Schöpfungen nur als ein objectiv Empirisches gegenüberstellen pdi_334.026
und nach der äusseren naturwissenschaftlichen Methode pdi_334.027
analysiren: dann träte eine Selbstentfremdung des Geistes seinen pdi_334.028
eigenen Schöpfungen gegenüber ein. Die sokratische Selbsterkenntniss pdi_334.029
würde einer äusseren descriptiven Methode Platz pdi_334.030
machen. Die Poetik wäre ausser Stande, die lebendige Function pdi_334.031
der Poesie in der Gesellschaft zu erkennen und ihr hierdurch pdi_334.032
ihren Platz und ihre Würde in derselben zu sichern.

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Die centrale Frage aller Poetik: Allgemeingültigkeit pdi_334.034
oder geschichtlicher Wechsel der Geschmacksurtheile, des Schönheitsbegriffs, pdi_334.035
der Technik und ihrer Regeln muss beantwortet pdi_334.036
werden, soll die Poetik dem schaffenden Dichter nützen, das Urtheil

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Schaffen und die ihm verwandte ästhetische Empfänglichkeit, pdi_334.002
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  Auch kann allein von einem solchen Verfahren gehofft werden, pdi_334.015
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  Der selbständige Werth der Dichtung, die Function, welche pdi_334.023
sie in der Gesellschaft hat, kann nach jener äusseren empirischen pdi_334.024
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der Poesie in der Gesellschaft zu erkennen und ihr hierdurch pdi_334.032
ihren Platz und ihre Würde in derselben zu sichern.

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oder geschichtlicher Wechsel der Geschmacksurtheile, des Schönheitsbegriffs, pdi_334.035
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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 334. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/36>, abgerufen am 25.04.2024.