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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

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durch die in ihm enthaltenen Formeln vollständig, obwohl pdi_370.003
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Zeit das von Montesquieu formulirte Geheimniss ihrer Poesie, pdi_370.005
in Einem Worte Viel zu sagen. Ein grosser Gedanke ist nach pdi_370.006
ihm ein vielumfassender, der mit Einem Schlage eine Fülle von pdi_370.007
Vorstellungen zum Bewusstsein bringt. Hier ist das Grosse in pdi_370.008
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der Poesie von Voltaire und Friedrich dem Grossen.

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Schicksal in eine Sphäre von Wohllaut und Harmonie erhebt pdi_370.014
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ihrem ganzen Inhalt inne werden. Diese Gefühle treten hervor, pdi_370.022
wenn die elementaren Triebe von dem sie umgebenden Milieu pdi_370.023
oder auch von inneren Zuständen aus Hemmungen oder Förderungen pdi_370.024
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reichen aufwärts der Nahrungstrieb, der Trieb der sinnlichen pdi_370.028
Selbsterhaltung oder Wille zu leben, der Trieb der Fortpflanzung pdi_370.029
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der Uhr des Lebens, die Muskeln, welche die Fortbewegung pdi_370.031
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Person sowie Selbstschätzung; dies sind nur verschiedene Seiten

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 370. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/72>, abgerufen am 16.04.2024.