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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

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deren bedeutende Ergebnisse bei Wolf, Lachmann und ihren pdi_306.002
Nachfolgern vorliegen. Ja diese deutsche Aesthetik hat in pdi_306.003
Frankreich und England den Fall der alten Formen beschleunigt pdi_306.004
und die ersten ihrer selbst noch ungewissen Bildungen eines pdi_306.005
neuen poetischen Zeitalters beeinflusst.

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Heute herrscht Anarchie auf dem weiten Gebiete der Dichtung pdi_306.007
in allen Ländern. Die von Aristoteles geschaffene Poetik ist pdi_306.008
todt. Ihre Formen und ihre Regeln waren schon gegenüber den pdi_306.009
schönen, poetischen Ungeheuern eines Fielding und Sterne, eines pdi_306.010
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geworden, Schablonen, von einer vergangenen Kunstweise abgezogen. pdi_306.012
Unsere Aesthetik lebt wohl hier und da noch auf einem pdi_306.013
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Künstler oder Kritiker, und da allein wäre doch ihr Leben. Als in pdi_306.015
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Delaroche sowie Gallait emporkamen, als in der deutschen die pdi_306.017
Cartonmalerei des Cornelius in den Schatten der Museen verschwand pdi_306.018
und dem wirklichen Menschen von Schadow und Menzel pdi_306.019
Platz machte, da war das einst von Goethe, Meyer und den pdi_306.020
anderen Weimarer Kunstfreunden vereinbarte Gesetzbuch der pdi_306.021
idealen Schönheit in den bildenden Künsten ausser Kraft gesetzt. pdi_306.022
Als seit der französischen Revolution immer stärker die pdi_306.023
ungeheuren Wirklichkeiten London und Paris, in deren Seele pdi_306.024
eine neue Art von Poesie circulirt, die Augen der Dichter wie pdi_306.025
des Publicums auf sich zogen, als Dickens und Balzac das Epos pdi_306.026
des in diesen Städten kreisenden modernen Lebens zu schreiben pdi_306.027
begannen, da war es auch vorbei mit den Grundsätzen der pdi_306.028
Poetik, wie sie einst in dem idyllischen Weimar zwischen Schiller, pdi_306.029
Goethe und Humboldt berathen worden waren. Aus allen Zeiten pdi_306.030
und Völkern dringt eine bunte Formenmenge auf uns ein und pdi_306.031
scheint jede Abgrenzung von Dichtungsarten und jede Regel pdi_306.032
aufzulösen. Zumal aus dem Osten überfluthet uns elementare, pdi_306.033
formlose Dichtung, Musik und Malerei, halb barbarisch, aber pdi_306.034
von der herzensrohen Energie solcher Völker, die noch die pdi_306.035
Kämpfe des Geistes in Romanen und zwanzig Fuss breiten Gemälden pdi_306.036
auskämpfen. - In dieser Anarchie ist der Künstler von

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Frankreich und England den Fall der alten Formen beschleunigt pdi_306.004
und die ersten ihrer selbst noch ungewissen Bildungen eines pdi_306.005
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formlose Dichtung, Musik und Malerei, halb barbarisch, aber pdi_306.034
von der herzensrohen Energie solcher Völker, die noch die pdi_306.035
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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/8>, abgerufen am 18.04.2024.