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Droysen, Johann Gustav: Geschichte Alexanders des Großen. Hamburg, [1833].

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änderungen stets um so größeren Einfluß, je näher und unmittel-
barer das Verhältniß eines Volkes zum Staat ist. Derselbe Man-
gel an geschichtlicher Durchbildung, welcher den Völkern Asiens
bisher eine höhere staatliche Existenz unmöglich gemacht hatte, ließ
sie zunächst und zum guten Theil von der neuen Bewegung der
Gedanken unberührt; und wenn sich Alexander vielfach ihrem
Herkommen und ihren Vorurtheilen gefügt hatte, so zeigt das,
auf welchem Wege allein es möglich war, sie allmählich über sich
selbst hinauszuführen. Natürlich war der Erfolg dieser Bemü-
hungen je nach dem Charakter der verschiedenen Völker sehr ver-
schieden; und während unter den Hyrkaniern und Gedrosiern
kaum noch die ersten Anfänge Wurzel fassen mochten, hatte der
Aegyptier schon seinen Abscheu gegen die kastenlosen Fremdlinge,
der Phönicier seinen engherzigen Kaufmannsstolz zu verlernen be-
gonnen. Dennoch konnte erst die Geschichte der Folgezeit zeigen,
wie sich überall eine neue und analoge Weise zu sein, zu denken
und zu handeln durcharbeitete; dies um so mehr, da den meisten
alt Asiatischen Völkern die substantielle Grundlage ihrer Moral,
ihrer persönlichen und rechtlichen Verhältnisse, welche der Grieche
jener Zeit nur als Gewohnheit, Tradition oder bürgerliches Gesetz
kannte, in der Religion enthalten war und erst mit dieser er-
schüttert und umgewandelt werden konnte. Die Völker Asiens
aufzuklären, ihnen die Fesseln der Superstition, der unfreien Fröm-
migkeit, zu zerreißen, ihnen das Wollen und Können selbstischer Ver-
ständigkeit zu erwecken und zu allen guten und bösen Consequenzen
zu steigern, kurz sie für das geschichtliche Leben zu emancipiren,
das war die Arbeit, welche der Hellenismus in Asien zu voll-
bringen versucht und zum Theil, wenn auch erst spät, vollbracht
hat. -- Desto schneller und entschiedener ist die Umgestaltung der
sittlichen Zustände in dem Macedonischen und Griechischen Volks-
thum hervorgetreten. Beiden gemeinsam ist seit Alexanders Zeit
der Hang zum Ueberspannten, das Hingeben an die Gegenwart
des krasseste Egoismus; und doch, wie verschieden sind sie in jeder
Beziehung. Der Macedonier, vor drei Jahrzehnten noch von
bäurischer Einfalt, an der Scholle haftend und in dem gleichgül-
tigen Einerlei seiner armen Heimath glücklich, denkt jetzt nichts
als Ruhm, Macht und Kampf; er fühlt sich Herr einer neuen

aͤnderungen ſtets um ſo groͤßeren Einfluß, je naͤher und unmittel-
barer das Verhaͤltniß eines Volkes zum Staat iſt. Derſelbe Man-
gel an geſchichtlicher Durchbildung, welcher den Voͤlkern Aſiens
bisher eine hoͤhere ſtaatliche Exiſtenz unmoͤglich gemacht hatte, ließ
ſie zunaͤchſt und zum guten Theil von der neuen Bewegung der
Gedanken unberuͤhrt; und wenn ſich Alexander vielfach ihrem
Herkommen und ihren Vorurtheilen gefuͤgt hatte, ſo zeigt das,
auf welchem Wege allein es moͤglich war, ſie allmaͤhlich uͤber ſich
ſelbſt hinauszufuͤhren. Natuͤrlich war der Erfolg dieſer Bemuͤ-
hungen je nach dem Charakter der verſchiedenen Voͤlker ſehr ver-
ſchieden; und waͤhrend unter den Hyrkaniern und Gedroſiern
kaum noch die erſten Anfaͤnge Wurzel faſſen mochten, hatte der
Aegyptier ſchon ſeinen Abſcheu gegen die kaſtenloſen Fremdlinge,
der Phoͤnicier ſeinen engherzigen Kaufmannsſtolz zu verlernen be-
gonnen. Dennoch konnte erſt die Geſchichte der Folgezeit zeigen,
wie ſich uͤberall eine neue und analoge Weiſe zu ſein, zu denken
und zu handeln durcharbeitete; dies um ſo mehr, da den meiſten
alt Aſiatiſchen Voͤlkern die ſubſtantielle Grundlage ihrer Moral,
ihrer perſoͤnlichen und rechtlichen Verhaͤltniſſe, welche der Grieche
jener Zeit nur als Gewohnheit, Tradition oder buͤrgerliches Geſetz
kannte, in der Religion enthalten war und erſt mit dieſer er-
ſchuͤttert und umgewandelt werden konnte. Die Voͤlker Aſiens
aufzuklaͤren, ihnen die Feſſeln der Superſtition, der unfreien Froͤm-
migkeit, zu zerreißen, ihnen das Wollen und Koͤnnen ſelbſtiſcher Ver-
ſtaͤndigkeit zu erwecken und zu allen guten und boͤſen Conſequenzen
zu ſteigern, kurz ſie fuͤr das geſchichtliche Leben zu emancipiren,
das war die Arbeit, welche der Hellenismus in Aſien zu voll-
bringen verſucht und zum Theil, wenn auch erſt ſpaͤt, vollbracht
hat. — Deſto ſchneller und entſchiedener iſt die Umgeſtaltung der
ſittlichen Zuſtaͤnde in dem Macedoniſchen und Griechiſchen Volks-
thum hervorgetreten. Beiden gemeinſam iſt ſeit Alexanders Zeit
der Hang zum Ueberſpannten, das Hingeben an die Gegenwart
des kraſſeſte Egoismus; und doch, wie verſchieden ſind ſie in jeder
Beziehung. Der Macedonier, vor drei Jahrzehnten noch von
baͤuriſcher Einfalt, an der Scholle haftend und in dem gleichguͤl-
tigen Einerlei ſeiner armen Heimath gluͤcklich, denkt jetzt nichts
als Ruhm, Macht und Kampf; er fuͤhlt ſich Herr einer neuen

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[549/0563] aͤnderungen ſtets um ſo groͤßeren Einfluß, je naͤher und unmittel- barer das Verhaͤltniß eines Volkes zum Staat iſt. Derſelbe Man- gel an geſchichtlicher Durchbildung, welcher den Voͤlkern Aſiens bisher eine hoͤhere ſtaatliche Exiſtenz unmoͤglich gemacht hatte, ließ ſie zunaͤchſt und zum guten Theil von der neuen Bewegung der Gedanken unberuͤhrt; und wenn ſich Alexander vielfach ihrem Herkommen und ihren Vorurtheilen gefuͤgt hatte, ſo zeigt das, auf welchem Wege allein es moͤglich war, ſie allmaͤhlich uͤber ſich ſelbſt hinauszufuͤhren. Natuͤrlich war der Erfolg dieſer Bemuͤ- hungen je nach dem Charakter der verſchiedenen Voͤlker ſehr ver- ſchieden; und waͤhrend unter den Hyrkaniern und Gedroſiern kaum noch die erſten Anfaͤnge Wurzel faſſen mochten, hatte der Aegyptier ſchon ſeinen Abſcheu gegen die kaſtenloſen Fremdlinge, der Phoͤnicier ſeinen engherzigen Kaufmannsſtolz zu verlernen be- gonnen. Dennoch konnte erſt die Geſchichte der Folgezeit zeigen, wie ſich uͤberall eine neue und analoge Weiſe zu ſein, zu denken und zu handeln durcharbeitete; dies um ſo mehr, da den meiſten alt Aſiatiſchen Voͤlkern die ſubſtantielle Grundlage ihrer Moral, ihrer perſoͤnlichen und rechtlichen Verhaͤltniſſe, welche der Grieche jener Zeit nur als Gewohnheit, Tradition oder buͤrgerliches Geſetz kannte, in der Religion enthalten war und erſt mit dieſer er- ſchuͤttert und umgewandelt werden konnte. Die Voͤlker Aſiens aufzuklaͤren, ihnen die Feſſeln der Superſtition, der unfreien Froͤm- migkeit, zu zerreißen, ihnen das Wollen und Koͤnnen ſelbſtiſcher Ver- ſtaͤndigkeit zu erwecken und zu allen guten und boͤſen Conſequenzen zu ſteigern, kurz ſie fuͤr das geſchichtliche Leben zu emancipiren, das war die Arbeit, welche der Hellenismus in Aſien zu voll- bringen verſucht und zum Theil, wenn auch erſt ſpaͤt, vollbracht hat. — Deſto ſchneller und entſchiedener iſt die Umgeſtaltung der ſittlichen Zuſtaͤnde in dem Macedoniſchen und Griechiſchen Volks- thum hervorgetreten. Beiden gemeinſam iſt ſeit Alexanders Zeit der Hang zum Ueberſpannten, das Hingeben an die Gegenwart des kraſſeſte Egoismus; und doch, wie verſchieden ſind ſie in jeder Beziehung. Der Macedonier, vor drei Jahrzehnten noch von baͤuriſcher Einfalt, an der Scholle haftend und in dem gleichguͤl- tigen Einerlei ſeiner armen Heimath gluͤcklich, denkt jetzt nichts als Ruhm, Macht und Kampf; er fuͤhlt ſich Herr einer neuen

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Geschichte Alexanders des Großen. Hamburg, [1833], S. 549. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_alexander_1833/563>, abgerufen am 19.04.2024.