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Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

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Man wird den historischen Studien die Anerkennung nicht ver-
sagen, dass auch sie in der lebhaften wissenschaftlichen Bewegung
unseres Zeitalters ihre Stelle haben, dass sie thätig sind, Neues zu ent-
decken, das Alte neu zu durchforsehen, das Gefundene in angemessener
Weise darzustellen.

Aber wenn man sie nach ihrer wissenschaftlichen Rechtfertigung
und ihrem Verhältniss zu anderen Formen menschlicher Erkenntniss,
wenn man sie nach der Begründung ihres Verfahrens und dem Zu-
sammenhang ihrer Aufgaben fragt, so sind sie nicht in der Lage, ge-
nügende Auskunft zu geben.

Nicht als glaubten sie sich derartiger Fragen principiell nicht be-
dürftig oder nicht mächtig; es ist der eine und andere Versuch sie zu
lösen theils innerhalb der Geschichtsstudien selbst gemacht, theils aus
anderen Disciplinen herübergenommen worden.

Man hat der Weltgeschichte eine Stelle in der encyclopädischen
Philosophie angewiesen. Man hat sie, bedenklich gegen die logischen
Nothwendigkeiten, um so zuversichtlicher aus den materiellen Bedingun-
gen, aus den Zahlen der Statistik zu entwickeln empfohlen. Ein Anderer
wieder -- und er spricht nur theoretisch aus, was Unzählige meinen
oder gemeint haben -- stellt "die sogenannte Geschichte" überhaupt in
Frage: "die Völker existiren ja blos in abstracto, die Einzelnen sind
das Reale, die Weltgeschichte ist eigentlich blos eine zufällige Confi-
guration und ohne metaphysische Bedeutung." Anderer Seits ist der
fromme Eifer daran, freilich mehr doketisch als fromm, für den
Pragmatismus der menschlichen Dinge immer neue Wunderwirkungen
Gottes und seines unerforschlichen Rathschlusses zu substituiren, eine
Lehre, die wenigstens den Vorzug hat "dem Verstande nichts weiter
schuldig zu sein."

Innerhalb unserer Studien selbst hat bereits die Göttinger Schule

1*

Man wird den historischen Studien die Anerkennung nicht ver-
sagen, dass auch sie in der lebhaften wissenschaftlichen Bewegung
unseres Zeitalters ihre Stelle haben, dass sie thätig sind, Neues zu ent-
decken, das Alte neu zu durchforsehen, das Gefundene in angemessener
Weise darzustellen.

Aber wenn man sie nach ihrer wissenschaftlichen Rechtfertigung
und ihrem Verhältniss zu anderen Formen menschlicher Erkenntniss,
wenn man sie nach der Begründung ihres Verfahrens und dem Zu-
sammenhang ihrer Aufgaben fragt, so sind sie nicht in der Lage, ge-
nügende Auskunft zu geben.

Nicht als glaubten sie sich derartiger Fragen principiell nicht be-
dürftig oder nicht mächtig; es ist der eine und andere Versuch sie zu
lösen theils innerhalb der Geschichtsstudien selbst gemacht, theils aus
anderen Disciplinen herübergenommen worden.

Man hat der Weltgeschichte eine Stelle in der encyclopädischen
Philosophie angewiesen. Man hat sie, bedenklich gegen die logischen
Nothwendigkeiten, um so zuversichtlicher aus den materiellen Bedingun-
gen, aus den Zahlen der Statistik zu entwickeln empfohlen. Ein Anderer
wieder — und er spricht nur theoretisch aus, was Unzählige meinen
oder gemeint haben — stellt „die sogenannte Geschichte“ überhaupt in
Frage: „die Völker existiren ja blos in abstracto, die Einzelnen sind
das Reale, die Weltgeschichte ist eigentlich blos eine zufällige Confi-
guration und ohne metaphysische Bedeutung.“ Anderer Seits ist der
fromme Eifer daran, freilich mehr doketisch als fromm, für den
Pragmatismus der menschlichen Dinge immer neue Wunderwirkungen
Gottes und seines unerforschlichen Rathschlusses zu substituiren, eine
Lehre, die wenigstens den Vorzug hat „dem Verstande nichts weiter
schuldig zu sein.“

Innerhalb unserer Studien selbst hat bereits die Göttinger Schule

1*
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[[3]/0012] Man wird den historischen Studien die Anerkennung nicht ver- sagen, dass auch sie in der lebhaften wissenschaftlichen Bewegung unseres Zeitalters ihre Stelle haben, dass sie thätig sind, Neues zu ent- decken, das Alte neu zu durchforsehen, das Gefundene in angemessener Weise darzustellen. Aber wenn man sie nach ihrer wissenschaftlichen Rechtfertigung und ihrem Verhältniss zu anderen Formen menschlicher Erkenntniss, wenn man sie nach der Begründung ihres Verfahrens und dem Zu- sammenhang ihrer Aufgaben fragt, so sind sie nicht in der Lage, ge- nügende Auskunft zu geben. Nicht als glaubten sie sich derartiger Fragen principiell nicht be- dürftig oder nicht mächtig; es ist der eine und andere Versuch sie zu lösen theils innerhalb der Geschichtsstudien selbst gemacht, theils aus anderen Disciplinen herübergenommen worden. Man hat der Weltgeschichte eine Stelle in der encyclopädischen Philosophie angewiesen. Man hat sie, bedenklich gegen die logischen Nothwendigkeiten, um so zuversichtlicher aus den materiellen Bedingun- gen, aus den Zahlen der Statistik zu entwickeln empfohlen. Ein Anderer wieder — und er spricht nur theoretisch aus, was Unzählige meinen oder gemeint haben — stellt „die sogenannte Geschichte“ überhaupt in Frage: „die Völker existiren ja blos in abstracto, die Einzelnen sind das Reale, die Weltgeschichte ist eigentlich blos eine zufällige Confi- guration und ohne metaphysische Bedeutung.“ Anderer Seits ist der fromme Eifer daran, freilich mehr doketisch als fromm, für den Pragmatismus der menschlichen Dinge immer neue Wunderwirkungen Gottes und seines unerforschlichen Rathschlusses zu substituiren, eine Lehre, die wenigstens den Vorzug hat „dem Verstande nichts weiter schuldig zu sein.“ Innerhalb unserer Studien selbst hat bereits die Göttinger Schule 1*

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. [3]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/12>, abgerufen am 28.03.2024.