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Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

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des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts sich mit den allgemeinen
Fragen beschäftigt; und sie sind seitdem von Zeit zu Zeit wieder behan-
delt worden. Man hat zu erweisen unternommen, dass die Geschichte
"wesentlich politische Geschichte" sei und dass sich um diesen Kern
die vielerlei Elementar-, Hülfs- und andere Wissenschaften unseres Fachs
gruppiren. Man hat dann das Wesen der Geschichte in der Methode
erkannt und diese als "Kritik der Quellen," als Herstellung der "reinen
Thatsache" bezeichnet. Man hat die maassgebende Aufgabe unserer
Wissenschaft in der künstlerischen Darstellung und in dem "historischen
Kunstwerk" gefunden und feiert wohl als den grössten Historiker unserer
Zeit denjenigen, der in seiner Darstellung dem Walter Scott'schen
Roman am nächsten steht.

Der historische Sinn ist in der menschlichen Natur zu rege, als
dass er nicht früh und, unter glücklichen Verhältnissen, in angemessenen
Formen seinen Ausdruck hätte finden sollen; und dieser natürliche Takt
ist es, der noch jetzt unseren Studien den Weg weist und die Form
giebt. Aber der Anspruch der Wissenschaft dürfte sich damit nicht
befriedigt erachten; es liegt ihr ob, sich über ihre Ziele, ihre Mittel,
ihre Grundlagen klar zu werden. Nur so kann sie sich zur Höhe ihrer
Aufgabe erheben, nur so, mit Baconischen Ausdrücken zu sprechen, die
Anticipationen, die noch ihr Verfahren beherrschen, die idola theatri
fori specus überseitigen, für deren Bewahrung nicht minder grosse
Interessen thätig sind, als einst für Astrologie und Hexenprocesse, für
den Glauben an fromme und unfromme Zauberwirkungen eintraten; --
nur so wird sie über ein ungleich weiteres Gebiet menschlicher Inter-
essen, als sie bis jetzt will und kann, ihre Competenz begründen.

Das Bedürfniss, über unsere Wissenschaft und ihre Aufgabe ins
Klare zu kommen, wird jeder, der lehrend Jüngere in sie einzuführen
hat, eben so wie ich empfunden, Andere werden es in anderer Weise
zu befriedigen verstanden haben. Mich drängten zu solchen Unter-
suchungen namentlich Fragen, an denen man, weil sie in der täglichen
Uebung längst gelöst scheinen, vorüberzugehen pflegt.

Das, was heute Politik ist, gehört morgen der Geschichte an; was
heut ein Geschäft ist, gilt, wenn es wichtig genug war, nach einem
Menschenalter für ein Stück Geschichte. Wie wird aus den Geschäften
Geschichte? wo ist das Maass dafür dass sie Geschichte werden? macht

des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts sich mit den allgemeinen
Fragen beschäftigt; und sie sind seitdem von Zeit zu Zeit wieder behan-
delt worden. Man hat zu erweisen unternommen, dass die Geschichte
„wesentlich politische Geschichte“ sei und dass sich um diesen Kern
die vielerlei Elementar-, Hülfs- und andere Wissenschaften unseres Fachs
gruppiren. Man hat dann das Wesen der Geschichte in der Methode
erkannt und diese als „Kritik der Quellen,“ als Herstellung der „reinen
Thatsache“ bezeichnet. Man hat die maassgebende Aufgabe unserer
Wissenschaft in der künstlerischen Darstellung und in dem „historischen
Kunstwerk“ gefunden und feiert wohl als den grössten Historiker unserer
Zeit denjenigen, der in seiner Darstellung dem Walter Scott’schen
Roman am nächsten steht.

Der historische Sinn ist in der menschlichen Natur zu rege, als
dass er nicht früh und, unter glücklichen Verhältnissen, in angemessenen
Formen seinen Ausdruck hätte finden sollen; und dieser natürliche Takt
ist es, der noch jetzt unseren Studien den Weg weist und die Form
giebt. Aber der Anspruch der Wissenschaft dürfte sich damit nicht
befriedigt erachten; es liegt ihr ob, sich über ihre Ziele, ihre Mittel,
ihre Grundlagen klar zu werden. Nur so kann sie sich zur Höhe ihrer
Aufgabe erheben, nur so, mit Baconischen Ausdrücken zu sprechen, die
Anticipationen, die noch ihr Verfahren beherrschen, die idola theatri
fori specus überseitigen, für deren Bewahrung nicht minder grosse
Interessen thätig sind, als einst für Astrologie und Hexenprocesse, für
den Glauben an fromme und unfromme Zauberwirkungen eintraten; —
nur so wird sie über ein ungleich weiteres Gebiet menschlicher Inter-
essen, als sie bis jetzt will und kann, ihre Competenz begründen.

Das Bedürfniss, über unsere Wissenschaft und ihre Aufgabe ins
Klare zu kommen, wird jeder, der lehrend Jüngere in sie einzuführen
hat, eben so wie ich empfunden, Andere werden es in anderer Weise
zu befriedigen verstanden haben. Mich drängten zu solchen Unter-
suchungen namentlich Fragen, an denen man, weil sie in der täglichen
Uebung längst gelöst scheinen, vorüberzugehen pflegt.

Das, was heute Politik ist, gehört morgen der Geschichte an; was
heut ein Geschäft ist, gilt, wenn es wichtig genug war, nach einem
Menschenalter für ein Stück Geschichte. Wie wird aus den Geschäften
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[4/0013] des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts sich mit den allgemeinen Fragen beschäftigt; und sie sind seitdem von Zeit zu Zeit wieder behan- delt worden. Man hat zu erweisen unternommen, dass die Geschichte „wesentlich politische Geschichte“ sei und dass sich um diesen Kern die vielerlei Elementar-, Hülfs- und andere Wissenschaften unseres Fachs gruppiren. Man hat dann das Wesen der Geschichte in der Methode erkannt und diese als „Kritik der Quellen,“ als Herstellung der „reinen Thatsache“ bezeichnet. Man hat die maassgebende Aufgabe unserer Wissenschaft in der künstlerischen Darstellung und in dem „historischen Kunstwerk“ gefunden und feiert wohl als den grössten Historiker unserer Zeit denjenigen, der in seiner Darstellung dem Walter Scott’schen Roman am nächsten steht. Der historische Sinn ist in der menschlichen Natur zu rege, als dass er nicht früh und, unter glücklichen Verhältnissen, in angemessenen Formen seinen Ausdruck hätte finden sollen; und dieser natürliche Takt ist es, der noch jetzt unseren Studien den Weg weist und die Form giebt. Aber der Anspruch der Wissenschaft dürfte sich damit nicht befriedigt erachten; es liegt ihr ob, sich über ihre Ziele, ihre Mittel, ihre Grundlagen klar zu werden. Nur so kann sie sich zur Höhe ihrer Aufgabe erheben, nur so, mit Baconischen Ausdrücken zu sprechen, die Anticipationen, die noch ihr Verfahren beherrschen, die idola theatri fori specus überseitigen, für deren Bewahrung nicht minder grosse Interessen thätig sind, als einst für Astrologie und Hexenprocesse, für den Glauben an fromme und unfromme Zauberwirkungen eintraten; — nur so wird sie über ein ungleich weiteres Gebiet menschlicher Inter- essen, als sie bis jetzt will und kann, ihre Competenz begründen. Das Bedürfniss, über unsere Wissenschaft und ihre Aufgabe ins Klare zu kommen, wird jeder, der lehrend Jüngere in sie einzuführen hat, eben so wie ich empfunden, Andere werden es in anderer Weise zu befriedigen verstanden haben. Mich drängten zu solchen Unter- suchungen namentlich Fragen, an denen man, weil sie in der täglichen Uebung längst gelöst scheinen, vorüberzugehen pflegt. Das, was heute Politik ist, gehört morgen der Geschichte an; was heut ein Geschäft ist, gilt, wenn es wichtig genug war, nach einem Menschenalter für ein Stück Geschichte. Wie wird aus den Geschäften Geschichte? wo ist das Maass dafür dass sie Geschichte werden? macht

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/13>, abgerufen am 25.04.2024.