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Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

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Wortes Wissenschaft erhalten, gegen die sie sich auflehnen müsste.
Unsere Wissenschaft wird sich den sie angehenden Kreis von Begriffen
auf ihre, d. h. auf empirische Weise zu suchen haben. Sie wird es ver-
suchen dürfen, da ihre Methode wesentlich die des Verstehens ist, des
Verstehens auch dessen, was die Sprache und der Sprachgebrauch in
täglicher Uebung hat und ihrer Empirie darbietet.


Wir finden in unserer Sprache die Worte Natur und Geschichte.
Und Jedermann wird einverstanden sein, dass sich mit dem Wort Ge-
schichte sofort die Vorstellung eines Verlaufs, die Vorstellung des Zeit-
lichen verbindet. Von ewigen, d. h. zeitlosen Dingen, so weit wir Vor-
stellungen der Art fassen können, giebt es keine Geschichte; geschicht-
lich sind sie nur, erscheinen sie uns nur, sofern sie in das Zeitliche
eintreten, sei es durch Offenbarung, oder in Wirkungen oder in dem
ihnen zugekehrten Glauben endlicher, d. h. unter den Bedingungen der
Zeitlichkeit stehenden Geister.

Diese sind "nach Gottes Ebenbild" Geist; aber Geist in die Bedin-
gungen der Endlichkeit gestellt, d. h. dem Raum nach unzählige, der
Zeit nach rastlos werdende. Die Gegenwart, die ihnen und der sie ge-
hören, ist ein Analogon der Ewigkeit; denn die Ewigkeit, die wir nicht
erfahrungsmässig kennen, die wir aus der Selbstgewissheit unseres gei-
stigen Seins erschliessen, ist Gegenwart wie wir sie haben, aber gedacht
ohne die Schranke, in der wir sie haben, ohne den Wechsel des Kom-
mens und Scheidens, ohne das Dunkel vorwärts und rückwärts.

Geist in die Endlichkeit gebannt, ist das menschliche Sein in un-
scheidbarer Weise geistig und sinnlich zugleich; ein Gegensatz, der sich
in jedem Augenblick versöhnt, um sich wieder zu erneuen, und erneut,
um sich wieder zu versöhnen. Unser Sein, so lange es gesund, wach,
bei sich ist, vermag in keinem Moment nur sinnlich, nur geistig zu sein.

Ein Anderes ist es, dass die geistige Seite unseres Seins die Fä-
higkeit hat, bis zu einem gewissen Grade sich auf sich selbst zu rich-
ten, sich in sich selbst zu vertiefen, sich in sich und von sich aus, als
wäre seine andere Seite nicht, weiter zu bewegen. Denkend, glaubend,
schauend gewinnt der Geist so einen Inhalt, der in gewissem Sinn über
die Schranken der Endlichkeit hinaus liegt. Er bleibt auch dann noch

Wortes Wissenschaft erhalten, gegen die sie sich auflehnen müsste.
Unsere Wissenschaft wird sich den sie angehenden Kreis von Begriffen
auf ihre, d. h. auf empirische Weise zu suchen haben. Sie wird es ver-
suchen dürfen, da ihre Methode wesentlich die des Verstehens ist, des
Verstehens auch dessen, was die Sprache und der Sprachgebrauch in
täglicher Uebung hat und ihrer Empirie darbietet.


Wir finden in unserer Sprache die Worte Natur und Geschichte.
Und Jedermann wird einverstanden sein, dass sich mit dem Wort Ge-
schichte sofort die Vorstellung eines Verlaufs, die Vorstellung des Zeit-
lichen verbindet. Von ewigen, d. h. zeitlosen Dingen, so weit wir Vor-
stellungen der Art fassen können, giebt es keine Geschichte; geschicht-
lich sind sie nur, erscheinen sie uns nur, sofern sie in das Zeitliche
eintreten, sei es durch Offenbarung, oder in Wirkungen oder in dem
ihnen zugekehrten Glauben endlicher, d. h. unter den Bedingungen der
Zeitlichkeit stehenden Geister.

Diese sind „nach Gottes Ebenbild“ Geist; aber Geist in die Bedin-
gungen der Endlichkeit gestellt, d. h. dem Raum nach unzählige, der
Zeit nach rastlos werdende. Die Gegenwart, die ihnen und der sie ge-
hören, ist ein Analogon der Ewigkeit; denn die Ewigkeit, die wir nicht
erfahrungsmässig kennen, die wir aus der Selbstgewissheit unseres gei-
stigen Seins erschliessen, ist Gegenwart wie wir sie haben, aber gedacht
ohne die Schranke, in der wir sie haben, ohne den Wechsel des Kom-
mens und Scheidens, ohne das Dunkel vorwärts und rückwärts.

Geist in die Endlichkeit gebannt, ist das menschliche Sein in un-
scheidbarer Weise geistig und sinnlich zugleich; ein Gegensatz, der sich
in jedem Augenblick versöhnt, um sich wieder zu erneuen, und erneut,
um sich wieder zu versöhnen. Unser Sein, so lange es gesund, wach,
bei sich ist, vermag in keinem Moment nur sinnlich, nur geistig zu sein.

Ein Anderes ist es, dass die geistige Seite unseres Seins die Fä-
higkeit hat, bis zu einem gewissen Grade sich auf sich selbst zu rich-
ten, sich in sich selbst zu vertiefen, sich in sich und von sich aus, als
wäre seine andere Seite nicht, weiter zu bewegen. Denkend, glaubend,
schauend gewinnt der Geist so einen Inhalt, der in gewissem Sinn über
die Schranken der Endlichkeit hinaus liegt. Er bleibt auch dann noch

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[64/0073] Wortes Wissenschaft erhalten, gegen die sie sich auflehnen müsste. Unsere Wissenschaft wird sich den sie angehenden Kreis von Begriffen auf ihre, d. h. auf empirische Weise zu suchen haben. Sie wird es ver- suchen dürfen, da ihre Methode wesentlich die des Verstehens ist, des Verstehens auch dessen, was die Sprache und der Sprachgebrauch in täglicher Uebung hat und ihrer Empirie darbietet. Wir finden in unserer Sprache die Worte Natur und Geschichte. Und Jedermann wird einverstanden sein, dass sich mit dem Wort Ge- schichte sofort die Vorstellung eines Verlaufs, die Vorstellung des Zeit- lichen verbindet. Von ewigen, d. h. zeitlosen Dingen, so weit wir Vor- stellungen der Art fassen können, giebt es keine Geschichte; geschicht- lich sind sie nur, erscheinen sie uns nur, sofern sie in das Zeitliche eintreten, sei es durch Offenbarung, oder in Wirkungen oder in dem ihnen zugekehrten Glauben endlicher, d. h. unter den Bedingungen der Zeitlichkeit stehenden Geister. Diese sind „nach Gottes Ebenbild“ Geist; aber Geist in die Bedin- gungen der Endlichkeit gestellt, d. h. dem Raum nach unzählige, der Zeit nach rastlos werdende. Die Gegenwart, die ihnen und der sie ge- hören, ist ein Analogon der Ewigkeit; denn die Ewigkeit, die wir nicht erfahrungsmässig kennen, die wir aus der Selbstgewissheit unseres gei- stigen Seins erschliessen, ist Gegenwart wie wir sie haben, aber gedacht ohne die Schranke, in der wir sie haben, ohne den Wechsel des Kom- mens und Scheidens, ohne das Dunkel vorwärts und rückwärts. Geist in die Endlichkeit gebannt, ist das menschliche Sein in un- scheidbarer Weise geistig und sinnlich zugleich; ein Gegensatz, der sich in jedem Augenblick versöhnt, um sich wieder zu erneuen, und erneut, um sich wieder zu versöhnen. Unser Sein, so lange es gesund, wach, bei sich ist, vermag in keinem Moment nur sinnlich, nur geistig zu sein. Ein Anderes ist es, dass die geistige Seite unseres Seins die Fä- higkeit hat, bis zu einem gewissen Grade sich auf sich selbst zu rich- ten, sich in sich selbst zu vertiefen, sich in sich und von sich aus, als wäre seine andere Seite nicht, weiter zu bewegen. Denkend, glaubend, schauend gewinnt der Geist so einen Inhalt, der in gewissem Sinn über die Schranken der Endlichkeit hinaus liegt. Er bleibt auch dann noch

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/73>, abgerufen am 25.04.2024.