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Druskowitz, Helene von: Moderne Versuche eines Religionsersatzes. Heidelberg, 1886.

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vom Wesen der Dichtung selbst, wenn er dasselbe als Er-
hebung über die Wirklichkeit bezeichnet, eine einseitige. Kein
Wunder, daß bei dieser Fassung des Begriffes Poesie
Schiller's Dichtung Lange's höchstes Jdeal zu sein scheint,
während dieselbe kein letztes Muster ist. Kann die tiefste
und nachhaltigste Wirkung doch nur immer jene Dichtung
hervorbringen, in welcher Realismus und Jdealismus sich
das Gleichgewicht halten.

Sympathisch berührt Lange's edles Mitgefühl, mit dem
er sich der Armen und Elenden annimmt, und er betont,
wenn er auch keine vollkommene Abhilfe vorschlägt, zwei
wichtige Momente, wenn er sagt: "wenn ein Neues aus dem
Alten werden soll, müssen sich zwei große Dinge vereinigen,
eine weltentflammende ethische Jdee und eine sociale
Leistung,
welche mächtig genug ist, die niedergedrückten
Klassen eine große Stufe emporzuheben."



VI.

Zu den bemerkenswerthen Bemühungen, das uns be-
schäftigende Problem zu lösen, zählt auch Friedrich Nietzfche's
originelles Buch: "Also sprach Zarathustra".*) Es ist
gar nicht daran zu zweifeln, daß der Verfasser, der in
mancher Hinsicht eine exceptionelle Stellung unter den Schrift-
stellern unserer Tage einnimmt, mit diesem Werke ein neues
Evangelium geschaffen zu haben glaubt. Strebt er doch
sogar die Form und den Ton der heiligen Bücher wieder-
zugeben, was ihm, dem Meister der Form, allerdings vor-
trefflich gelingt.

Nietzsche's zahlreiche Werke sind bis jetzt von Publikum
und Kritik in hohem Maße unbeachtet geblieben. Bekannt,

*) Chemnitz, 1883 und 1884.

vom Weſen der Dichtung ſelbſt, wenn er dasſelbe als Er-
hebung über die Wirklichkeit bezeichnet, eine einſeitige. Kein
Wunder, daß bei dieſer Faſſung des Begriffes Poeſie
Schiller’s Dichtung Lange’s höchſtes Jdeal zu ſein ſcheint,
während dieſelbe kein letztes Muſter iſt. Kann die tiefſte
und nachhaltigſte Wirkung doch nur immer jene Dichtung
hervorbringen, in welcher Realismus und Jdealismus ſich
das Gleichgewicht halten.

Sympathiſch berührt Lange’s edles Mitgefühl, mit dem
er ſich der Armen und Elenden annimmt, und er betont,
wenn er auch keine vollkommene Abhilfe vorſchlägt, zwei
wichtige Momente, wenn er ſagt: „wenn ein Neues aus dem
Alten werden ſoll, müſſen ſich zwei große Dinge vereinigen,
eine weltentflammende ethiſche Jdee und eine ſociale
Leiſtung,
welche mächtig genug iſt, die niedergedrückten
Klaſſen eine große Stufe emporzuheben.“



VI.

Zu den bemerkenswerthen Bemühungen, das uns be-
ſchäftigende Problem zu löſen, zählt auch Friedrich Nietzfche’s
originelles Buch: „Alſo ſprach Zarathuſtra“.*) Es iſt
gar nicht daran zu zweifeln, daß der Verfaſſer, der in
mancher Hinſicht eine exceptionelle Stellung unter den Schrift-
ſtellern unſerer Tage einnimmt, mit dieſem Werke ein neues
Evangelium geſchaffen zu haben glaubt. Strebt er doch
ſogar die Form und den Ton der heiligen Bücher wieder-
zugeben, was ihm, dem Meiſter der Form, allerdings vor-
trefflich gelingt.

Nietzſche’s zahlreiche Werke ſind bis jetzt von Publikum
und Kritik in hohem Maße unbeachtet geblieben. Bekannt,

*) Chemnitz, 1883 und 1884.
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[45/0054] vom Weſen der Dichtung ſelbſt, wenn er dasſelbe als Er- hebung über die Wirklichkeit bezeichnet, eine einſeitige. Kein Wunder, daß bei dieſer Faſſung des Begriffes Poeſie Schiller’s Dichtung Lange’s höchſtes Jdeal zu ſein ſcheint, während dieſelbe kein letztes Muſter iſt. Kann die tiefſte und nachhaltigſte Wirkung doch nur immer jene Dichtung hervorbringen, in welcher Realismus und Jdealismus ſich das Gleichgewicht halten. Sympathiſch berührt Lange’s edles Mitgefühl, mit dem er ſich der Armen und Elenden annimmt, und er betont, wenn er auch keine vollkommene Abhilfe vorſchlägt, zwei wichtige Momente, wenn er ſagt: „wenn ein Neues aus dem Alten werden ſoll, müſſen ſich zwei große Dinge vereinigen, eine weltentflammende ethiſche Jdee und eine ſociale Leiſtung, welche mächtig genug iſt, die niedergedrückten Klaſſen eine große Stufe emporzuheben.“ VI. Zu den bemerkenswerthen Bemühungen, das uns be- ſchäftigende Problem zu löſen, zählt auch Friedrich Nietzfche’s originelles Buch: „Alſo ſprach Zarathuſtra“. *) Es iſt gar nicht daran zu zweifeln, daß der Verfaſſer, der in mancher Hinſicht eine exceptionelle Stellung unter den Schrift- ſtellern unſerer Tage einnimmt, mit dieſem Werke ein neues Evangelium geſchaffen zu haben glaubt. Strebt er doch ſogar die Form und den Ton der heiligen Bücher wieder- zugeben, was ihm, dem Meiſter der Form, allerdings vor- trefflich gelingt. Nietzſche’s zahlreiche Werke ſind bis jetzt von Publikum und Kritik in hohem Maße unbeachtet geblieben. Bekannt, *) Chemnitz, 1883 und 1884.

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Zitationshilfe: Druskowitz, Helene von: Moderne Versuche eines Religionsersatzes. Heidelberg, 1886, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/druskowitz_religionsersatz_1886/54>, abgerufen am 29.03.2024.