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Druskowitz, Helene von: Moderne Versuche eines Religionsersatzes. Heidelberg, 1886.

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und Phantasie. Stopft uns nicht voll Betheuerungen und halbe
Wahrheiten, Gefühlsschwärmerei und Schnüffelei. Eine neue Kirche
wird auf die Moralwissenschaft gegründet werden. Sie wird anfangs
klein und nackend sein, ein Säugling in der Wiege wie ehedem, -- Al-
gebra und Mathematik des Sittengesetzes der Kirche des kommenden
Menschengeschlechtes, die sich ohne Schalmeien, Psalmen und Posaunen
begründet. Aber Himmel und Erde wird sie zu Stützen, zu Dach und
Seitengebälk haben, die Wissenschaft als Versinnbildlichung und Er-
klärung, und Schönheit, Musik und Dichtkunst werden sich eng an sie
anschließen. Nie war ein Stoicismus so düster und streng, als sie
sein wird. Sie wird den Menschen in seine ursprüngliche Einsamkeit
zurückverweisen, diese verwaschenen, verdorbenen und gleißnerischen Ge-
sellschaftsmanieren vernichten und dem Menschen sagen, daß er den
größten Theil seiner Zeit nur sich selbst zum Freunde haben darf.
Er darf keine Mitarbeiter erwarten, er muß ohne Gefährten gehen. Auf
den namenlosen Gedanken, auf die namenlose Macht, auf das über-
persönliche Herz allein darf er sich stützen. Er bedarf nur seines eigenen
Urtheils; kein guter Ruf kann ihm helfen, kein böser ihm schaden.
Die Gesetze sind seine Tröster, sie wissen, ob er sie gehalten hat, sie
beleben ihn mit dem Gefühle einer großen Pflicht und geben ihm
einen unendlichen Gesichtskreis. Glück und Ehre gibt es nur für den,
der sich immer in der Nähe des Großen, immer in strenger
Beziehung zu den Urgründen des Daseins fühlt.
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und Phantaſie. Stopft uns nicht voll Betheuerungen und halbe
Wahrheiten, Gefühlsſchwärmerei und Schnüffelei. Eine neue Kirche
wird auf die Moralwiſſenſchaft gegründet werden. Sie wird anfangs
klein und nackend ſein, ein Säugling in der Wiege wie ehedem, — Al-
gebra und Mathematik des Sittengeſetzes der Kirche des kommenden
Menſchengeſchlechtes, die ſich ohne Schalmeien, Pſalmen und Poſaunen
begründet. Aber Himmel und Erde wird ſie zu Stützen, zu Dach und
Seitengebälk haben, die Wiſſenſchaft als Verſinnbildlichung und Er-
klärung, und Schönheit, Muſik und Dichtkunſt werden ſich eng an ſie
anſchließen. Nie war ein Stoicismus ſo düſter und ſtreng, als ſie
ſein wird. Sie wird den Menſchen in ſeine urſprüngliche Einſamkeit
zurückverweiſen, dieſe verwaſchenen, verdorbenen und gleißneriſchen Ge-
ſellſchaftsmanieren vernichten und dem Menſchen ſagen, daß er den
größten Theil ſeiner Zeit nur ſich ſelbſt zum Freunde haben darf.
Er darf keine Mitarbeiter erwarten, er muß ohne Gefährten gehen. Auf
den namenloſen Gedanken, auf die namenloſe Macht, auf das über-
perſönliche Herz allein darf er ſich ſtützen. Er bedarf nur ſeines eigenen
Urtheils; kein guter Ruf kann ihm helfen, kein böſer ihm ſchaden.
Die Geſetze ſind ſeine Tröſter, ſie wiſſen, ob er ſie gehalten hat, ſie
beleben ihn mit dem Gefühle einer großen Pflicht und geben ihm
einen unendlichen Geſichtskreis. Glück und Ehre gibt es nur für den,
der ſich immer in der Nähe des Großen, immer in ſtrenger
Beziehung zu den Urgründen des Daſeins fühlt.
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[87/0096] *) *) und Phantaſie. Stopft uns nicht voll Betheuerungen und halbe Wahrheiten, Gefühlsſchwärmerei und Schnüffelei. Eine neue Kirche wird auf die Moralwiſſenſchaft gegründet werden. Sie wird anfangs klein und nackend ſein, ein Säugling in der Wiege wie ehedem, — Al- gebra und Mathematik des Sittengeſetzes der Kirche des kommenden Menſchengeſchlechtes, die ſich ohne Schalmeien, Pſalmen und Poſaunen begründet. Aber Himmel und Erde wird ſie zu Stützen, zu Dach und Seitengebälk haben, die Wiſſenſchaft als Verſinnbildlichung und Er- klärung, und Schönheit, Muſik und Dichtkunſt werden ſich eng an ſie anſchließen. Nie war ein Stoicismus ſo düſter und ſtreng, als ſie ſein wird. Sie wird den Menſchen in ſeine urſprüngliche Einſamkeit zurückverweiſen, dieſe verwaſchenen, verdorbenen und gleißneriſchen Ge- ſellſchaftsmanieren vernichten und dem Menſchen ſagen, daß er den größten Theil ſeiner Zeit nur ſich ſelbſt zum Freunde haben darf. Er darf keine Mitarbeiter erwarten, er muß ohne Gefährten gehen. Auf den namenloſen Gedanken, auf die namenloſe Macht, auf das über- perſönliche Herz allein darf er ſich ſtützen. Er bedarf nur ſeines eigenen Urtheils; kein guter Ruf kann ihm helfen, kein böſer ihm ſchaden. Die Geſetze ſind ſeine Tröſter, ſie wiſſen, ob er ſie gehalten hat, ſie beleben ihn mit dem Gefühle einer großen Pflicht und geben ihm einen unendlichen Geſichtskreis. Glück und Ehre gibt es nur für den, der ſich immer in der Nähe des Großen, immer in ſtrenger Beziehung zu den Urgründen des Daſeins fühlt.“

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Zitationshilfe: Druskowitz, Helene von: Moderne Versuche eines Religionsersatzes. Heidelberg, 1886, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/druskowitz_religionsersatz_1886/96>, abgerufen am 19.04.2024.