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Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885.

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Die Psychologen pflegen diese Thatsachen -- je nach dem
Ganzen ihrer Ansichten -- unter verschiedenen Gesichtspunkten
aufzufassen, die sich nicht vollkommen ausschliessen, aber auch
nicht vollkommen mit einander harmonieren.

Die einen halten sich, wie es scheint, vorwiegend an die
auffallende Wiederkehr lebhafter Erinnerungsbilder selbst nach
grösseren Zeiträumen. Sie nehmen an, dass von den Empfin-
dungen, die durch Eindrücke der Aussenwelt erregt werden,
abgeblasste Bilder, "Spuren", zurückbleiben, die zwar in jeder
Beziehung schwächer, luftiger seien als ihre Empfindungs-
vorbilder, aber in der Intensität, die sie nun einmal haben,
ziemlich unverändert und dauernd fortbestehen. Gegen die
viel intensiveren und derberen Empfindungskomplexe des
wachen Lebens haben jene Phantasiebilder einen schweren
Stand; aber wo die ersteren ganz oder grösstenteils fehlen,
z. B. im Schlaf, da herrschen sie um so unumschränkter.
Dabei werden die früher erworbenen Bilder mehr und mehr
überlagert sozusagen und überschüttet durch die späteren.
Die Möglichkeit des Wiederhervortretens bietet sich für jene
also seltener und schwieriger. Wenn aber durch eine zufäl-
lige und günstige Fügung der Umstände die angesammelten
Schichten einmal bei Seite geschoben werden, dann muss natür-
lich noch nach beliebig langer Zeit das darunter Verborgene
auch in seiner ursprünglichen, ihm immer noch beiwohnenden
Frische wieder erscheinen*.


* Diese Auffassung ist die, immer noch vielfach massgebende, des
Aristoteles. Neuerdings hat z. B. Delboeuf sie wieder aufgenommen und
zu einer Ergänzung seiner "theorie generale de la sensibilite" benutzt. In
seiner Abhandlung Le sommeil et les reves (Rev. philos. IX S. 153 f.)
sagt er: "Nous voyons maintenant que tout acte de sentiment, de pen-
see ou de volition en vertu d'une loi universelle imprime en nous une
trace plus ou moins profonde, mais indelebile, generalement gravee sur

Die Psychologen pflegen diese Thatsachen — je nach dem
Ganzen ihrer Ansichten — unter verschiedenen Gesichtspunkten
aufzufassen, die sich nicht vollkommen ausschlieſsen, aber auch
nicht vollkommen mit einander harmonieren.

Die einen halten sich, wie es scheint, vorwiegend an die
auffallende Wiederkehr lebhafter Erinnerungsbilder selbst nach
gröſseren Zeiträumen. Sie nehmen an, daſs von den Empfin-
dungen, die durch Eindrücke der Auſsenwelt erregt werden,
abgeblaſste Bilder, „Spuren“, zurückbleiben, die zwar in jeder
Beziehung schwächer, luftiger seien als ihre Empfindungs-
vorbilder, aber in der Intensität, die sie nun einmal haben,
ziemlich unverändert und dauernd fortbestehen. Gegen die
viel intensiveren und derberen Empfindungskomplexe des
wachen Lebens haben jene Phantasiebilder einen schweren
Stand; aber wo die ersteren ganz oder gröſstenteils fehlen,
z. B. im Schlaf, da herrschen sie um so unumschränkter.
Dabei werden die früher erworbenen Bilder mehr und mehr
überlagert sozusagen und überschüttet durch die späteren.
Die Möglichkeit des Wiederhervortretens bietet sich für jene
also seltener und schwieriger. Wenn aber durch eine zufäl-
lige und günstige Fügung der Umstände die angesammelten
Schichten einmal bei Seite geschoben werden, dann muſs natür-
lich noch nach beliebig langer Zeit das darunter Verborgene
auch in seiner ursprünglichen, ihm immer noch beiwohnenden
Frische wieder erscheinen*.


* Diese Auffassung ist die, immer noch vielfach maſsgebende, des
Aristoteles. Neuerdings hat z. B. Delboeuf sie wieder aufgenommen und
zu einer Ergänzung seiner „théorie générale de la sensibilité“ benutzt. In
seiner Abhandlung Le sommeil et les rêves (Rev. philos. IX S. 153 f.)
sagt er: „Nous voyons maintenant que tout acte de sentiment, de pen-
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trace plus ou moins profonde, mais indélébile, généralement gravée sur
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[86/0102] Die Psychologen pflegen diese Thatsachen — je nach dem Ganzen ihrer Ansichten — unter verschiedenen Gesichtspunkten aufzufassen, die sich nicht vollkommen ausschlieſsen, aber auch nicht vollkommen mit einander harmonieren. Die einen halten sich, wie es scheint, vorwiegend an die auffallende Wiederkehr lebhafter Erinnerungsbilder selbst nach gröſseren Zeiträumen. Sie nehmen an, daſs von den Empfin- dungen, die durch Eindrücke der Auſsenwelt erregt werden, abgeblaſste Bilder, „Spuren“, zurückbleiben, die zwar in jeder Beziehung schwächer, luftiger seien als ihre Empfindungs- vorbilder, aber in der Intensität, die sie nun einmal haben, ziemlich unverändert und dauernd fortbestehen. Gegen die viel intensiveren und derberen Empfindungskomplexe des wachen Lebens haben jene Phantasiebilder einen schweren Stand; aber wo die ersteren ganz oder gröſstenteils fehlen, z. B. im Schlaf, da herrschen sie um so unumschränkter. Dabei werden die früher erworbenen Bilder mehr und mehr überlagert sozusagen und überschüttet durch die späteren. Die Möglichkeit des Wiederhervortretens bietet sich für jene also seltener und schwieriger. Wenn aber durch eine zufäl- lige und günstige Fügung der Umstände die angesammelten Schichten einmal bei Seite geschoben werden, dann muſs natür- lich noch nach beliebig langer Zeit das darunter Verborgene auch in seiner ursprünglichen, ihm immer noch beiwohnenden Frische wieder erscheinen *. * Diese Auffassung ist die, immer noch vielfach maſsgebende, des Aristoteles. Neuerdings hat z. B. Delboeuf sie wieder aufgenommen und zu einer Ergänzung seiner „théorie générale de la sensibilité“ benutzt. In seiner Abhandlung Le sommeil et les rêves (Rev. philos. IX S. 153 f.) sagt er: „Nous voyons maintenant que tout acte de sentiment, de pen- sée ou de volition en vertu d’une loi universelle imprime en nous une trace plus ou moins profonde, mais indélébile, généralement gravée sur

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Zitationshilfe: Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebbinghaus_gedaechtnis_1885/102>, abgerufen am 19.04.2024.