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Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885.

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zu gestatten oder auch nur als überwiegend wahrscheinlich er-
scheinen zu lassen. Wer vermöchte denn das vorausgesetzte all-
mähliche Überschüttetwerden oder Sinken oder Zerbröckeln der
Vorstellungen in dem thatsächlichen Verlaufe dieser
Allmählichkeit auch nur einigermassen exakt zu beschreiben?
Wer weiss etwas Befriedigendes zu sagen über die von Vor-
stellungsmassen verschiedenen Umfangs ausgehenden Hem-
mungen, oder über die Auflockerungen, die ein irgendwie
festgefügter Komplex erleidet durch Verwendung seiner Be-
standteile in neuen Kombinationen? Mit einer "Erklärung"
dieser Vorgänge ist jeder für sich längst im reinen, aber
das thatsächliche Verhalten der Dinge, welches doch schliess-
lich erklärt werden sollte, ist uns allen in gleicher Weise
unbekannt.

Und bei der Beschränkung auf die direkte Beobachtung
und die ihr gelegentlich sich bietenden brauchbaren Erfah-
rungen scheint kaum eine Aussicht vorhanden, dass es hiermit
besser werden könnte. Wie will man etwa den zu einer
bestimmten Zeit erreichten Grad der Verdunkelung oder die
noch übrige Zahl von Fragmenten bestimmen? Oder wie den
vermutlichen Fortgang der inneren Prozesse verfolgen, wenn
die fast ganz vergessenen Vorstellungen gar nicht mehr zum
Bewusstsein zurückkehren?

§ 27.
Untersuchung des thatsächlichen Verhaltens.

Mit Hülfe unserer Methode ist eine Möglichkeit geboten,
der Beantwortung der eben aufgeworfenen Fragen auf einem
bestimmt umgrenzten kleinen Gebiet indirekt näher zu treten
und unter vorläufiger Fernhaltung jeder Theorie eine solche
vielleicht anzubahnen.


zu gestatten oder auch nur als überwiegend wahrscheinlich er-
scheinen zu lassen. Wer vermöchte denn das vorausgesetzte all-
mähliche Überschüttetwerden oder Sinken oder Zerbröckeln der
Vorstellungen in dem thatsächlichen Verlaufe dieser
Allmählichkeit auch nur einigermaſsen exakt zu beschreiben?
Wer weiſs etwas Befriedigendes zu sagen über die von Vor-
stellungsmassen verschiedenen Umfangs ausgehenden Hem-
mungen, oder über die Auflockerungen, die ein irgendwie
festgefügter Komplex erleidet durch Verwendung seiner Be-
standteile in neuen Kombinationen? Mit einer „Erklärung“
dieser Vorgänge ist jeder für sich längst im reinen, aber
das thatsächliche Verhalten der Dinge, welches doch schlieſs-
lich erklärt werden sollte, ist uns allen in gleicher Weise
unbekannt.

Und bei der Beschränkung auf die direkte Beobachtung
und die ihr gelegentlich sich bietenden brauchbaren Erfah-
rungen scheint kaum eine Aussicht vorhanden, daſs es hiermit
besser werden könnte. Wie will man etwa den zu einer
bestimmten Zeit erreichten Grad der Verdunkelung oder die
noch übrige Zahl von Fragmenten bestimmen? Oder wie den
vermutlichen Fortgang der inneren Prozesse verfolgen, wenn
die fast ganz vergessenen Vorstellungen gar nicht mehr zum
Bewuſstsein zurückkehren?

§ 27.
Untersuchung des thatsächlichen Verhaltens.

Mit Hülfe unserer Methode ist eine Möglichkeit geboten,
der Beantwortung der eben aufgeworfenen Fragen auf einem
bestimmt umgrenzten kleinen Gebiet indirekt näher zu treten
und unter vorläufiger Fernhaltung jeder Theorie eine solche
vielleicht anzubahnen.


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[89/0105] zu gestatten oder auch nur als überwiegend wahrscheinlich er- scheinen zu lassen. Wer vermöchte denn das vorausgesetzte all- mähliche Überschüttetwerden oder Sinken oder Zerbröckeln der Vorstellungen in dem thatsächlichen Verlaufe dieser Allmählichkeit auch nur einigermaſsen exakt zu beschreiben? Wer weiſs etwas Befriedigendes zu sagen über die von Vor- stellungsmassen verschiedenen Umfangs ausgehenden Hem- mungen, oder über die Auflockerungen, die ein irgendwie festgefügter Komplex erleidet durch Verwendung seiner Be- standteile in neuen Kombinationen? Mit einer „Erklärung“ dieser Vorgänge ist jeder für sich längst im reinen, aber das thatsächliche Verhalten der Dinge, welches doch schlieſs- lich erklärt werden sollte, ist uns allen in gleicher Weise unbekannt. Und bei der Beschränkung auf die direkte Beobachtung und die ihr gelegentlich sich bietenden brauchbaren Erfah- rungen scheint kaum eine Aussicht vorhanden, daſs es hiermit besser werden könnte. Wie will man etwa den zu einer bestimmten Zeit erreichten Grad der Verdunkelung oder die noch übrige Zahl von Fragmenten bestimmen? Oder wie den vermutlichen Fortgang der inneren Prozesse verfolgen, wenn die fast ganz vergessenen Vorstellungen gar nicht mehr zum Bewuſstsein zurückkehren? § 27. Untersuchung des thatsächlichen Verhaltens. Mit Hülfe unserer Methode ist eine Möglichkeit geboten, der Beantwortung der eben aufgeworfenen Fragen auf einem bestimmt umgrenzten kleinen Gebiet indirekt näher zu treten und unter vorläufiger Fernhaltung jeder Theorie eine solche vielleicht anzubahnen.

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Zitationshilfe: Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebbinghaus_gedaechtnis_1885/105>, abgerufen am 18.04.2024.