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Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885.

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den Stock nach einer einzigen höchst eindrucksvollen Erfah-
rung; Menschen, für die man sich nicht interessiert, kann
man täglich sehen, ohne sich gelegentlich einmal auf die Farbe
ihrer Haare oder Augen besinnen zu können.

Unter gewöhnlichen Umständen freilich sind häufige
Wiederholungen
unerlässlich, damit die Reproduktion eines
Inhalts möglich sei. Vokabeln, grössere Gedichte, Reden ver-
mag man bei grösster Anspannung und Begabung nicht durch
einmalige Vorführung sich anzueignen. Durch genügende Re-
petition gelingt ihre endliche Beherrschung und durch weitere
Steigerung der Wiederholungen gewinnen die späteren Re-
produktionen an Sicherheit und Leichtigkeit.

Sich selbst überlassen verliert jeder psychische Inhalt
allmählich die Fähigkeit des Wiederauflebens oder erleidet
doch Einbusse an ihr durch den Einfluss der Zeit. Von der
Fülle von Kenntnissen, die man sich für die Bedürfnisse eines
Examens einprägt, ist derjenige Teil, der durch die frühere
Beschäftigung nicht genügend fundiert war und durch die
spätere nicht genügend aufgefrischt wird, bald verflogen. Aber
selbst ein so früh und tief Fundiertes wie die Muttersprache
wird durch mehrjährigen Nichtgebrauch merklich geschädigt.

§ 3.
Mangelhaftigkeit unseres Wissens über das
Gedächtnis.

Das vorstehend skizzierte Bild unseres Wissens vom Ge-
dächtnis macht keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die
Psychologie kennt noch eine Reihe von Sätzen, die sich ihm
einfügen liessen: "wer schnell lernt, vergisst auch schnell",
"relativ lange Vorstellungsreihen haften fester als relativ
kurze", "der alternde Mensch vergisst das Spätestgelernte am

den Stock nach einer einzigen höchst eindrucksvollen Erfah-
rung; Menschen, für die man sich nicht interessiert, kann
man täglich sehen, ohne sich gelegentlich einmal auf die Farbe
ihrer Haare oder Augen besinnen zu können.

Unter gewöhnlichen Umständen freilich sind häufige
Wiederholungen
unerläſslich, damit die Reproduktion eines
Inhalts möglich sei. Vokabeln, gröſsere Gedichte, Reden ver-
mag man bei gröſster Anspannung und Begabung nicht durch
einmalige Vorführung sich anzueignen. Durch genügende Re-
petition gelingt ihre endliche Beherrschung und durch weitere
Steigerung der Wiederholungen gewinnen die späteren Re-
produktionen an Sicherheit und Leichtigkeit.

Sich selbst überlassen verliert jeder psychische Inhalt
allmählich die Fähigkeit des Wiederauflebens oder erleidet
doch Einbuſse an ihr durch den Einfluſs der Zeit. Von der
Fülle von Kenntnissen, die man sich für die Bedürfnisse eines
Examens einprägt, ist derjenige Teil, der durch die frühere
Beschäftigung nicht genügend fundiert war und durch die
spätere nicht genügend aufgefrischt wird, bald verflogen. Aber
selbst ein so früh und tief Fundiertes wie die Muttersprache
wird durch mehrjährigen Nichtgebrauch merklich geschädigt.

§ 3.
Mangelhaftigkeit unseres Wissens über das
Gedächtnis.

Das vorstehend skizzierte Bild unseres Wissens vom Ge-
dächtnis macht keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die
Psychologie kennt noch eine Reihe von Sätzen, die sich ihm
einfügen lieſsen: „wer schnell lernt, vergiſst auch schnell“,
„relativ lange Vorstellungsreihen haften fester als relativ
kurze“, „der alternde Mensch vergiſst das Spätestgelernte am

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[5/0021] den Stock nach einer einzigen höchst eindrucksvollen Erfah- rung; Menschen, für die man sich nicht interessiert, kann man täglich sehen, ohne sich gelegentlich einmal auf die Farbe ihrer Haare oder Augen besinnen zu können. Unter gewöhnlichen Umständen freilich sind häufige Wiederholungen unerläſslich, damit die Reproduktion eines Inhalts möglich sei. Vokabeln, gröſsere Gedichte, Reden ver- mag man bei gröſster Anspannung und Begabung nicht durch einmalige Vorführung sich anzueignen. Durch genügende Re- petition gelingt ihre endliche Beherrschung und durch weitere Steigerung der Wiederholungen gewinnen die späteren Re- produktionen an Sicherheit und Leichtigkeit. Sich selbst überlassen verliert jeder psychische Inhalt allmählich die Fähigkeit des Wiederauflebens oder erleidet doch Einbuſse an ihr durch den Einfluſs der Zeit. Von der Fülle von Kenntnissen, die man sich für die Bedürfnisse eines Examens einprägt, ist derjenige Teil, der durch die frühere Beschäftigung nicht genügend fundiert war und durch die spätere nicht genügend aufgefrischt wird, bald verflogen. Aber selbst ein so früh und tief Fundiertes wie die Muttersprache wird durch mehrjährigen Nichtgebrauch merklich geschädigt. § 3. Mangelhaftigkeit unseres Wissens über das Gedächtnis. Das vorstehend skizzierte Bild unseres Wissens vom Ge- dächtnis macht keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Psychologie kennt noch eine Reihe von Sätzen, die sich ihm einfügen lieſsen: „wer schnell lernt, vergiſst auch schnell“, „relativ lange Vorstellungsreihen haften fester als relativ kurze“, „der alternde Mensch vergiſst das Spätestgelernte am

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Zitationshilfe: Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebbinghaus_gedaechtnis_1885/21>, abgerufen am 29.03.2024.