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Ebeling, Johann Justus: Andächtige Betrachtungen aus dem Buche der Natur und Schrift. Bd. 3. Hildesheim, 1747.

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Die wunderbahre Flucht unterschiedner Vögel
Wer aber dabei recht was wunderbahr bedenkt,
Das Auge des Gemüts auf ihren Schöpfer lenkt:
Der fühlt ein doppeltes, ein inniges Vergnügen,
Wenn sie zur trüben Zeit, aus unsrer Gegend flie-
gen.

Wir merken daß ein Thier, ob es gleich nichts ver-
steht,

Den Triebe der Natur ganz ordentlich nachgeht;
Sein Thun das richtet sich nach der Natur Gese-
zen,

Es kan aus innren Zwang dieselbe nicht verlezzen.
Die Freiheit fehlet ihm, und kommt die rauhe Zeit,
So ist der Kranich gleich zu seiner Flucht bereit;
Er geht zur andren Welt, sich daselbst zu erhalten,
Wenn in dem starren Frost die Lüffte hier erkal-
ten.

Wir Menschen sind von GOtt viel herlicher ge-
macht,

Er hat in uns ein Licht des Geistes angefacht,
Das heisset der Verstand, das Auge unsrer See-
len,

Der Wille muß darnach in rechter Freiheit wählen,
Was uns als nüzlich scheint. Allein wir folgen
nicht,

Dem Urtheil allemahl, das der Verstand ausspricht,
Versäumen oft die Zeit; wir wollen nicht entflie-
hen,

Wenn trübe Wolken sich auf uns zusammen ziehen.
Ein Kranich nimmt die Zeit zu seiner Flucht in Acht,
Und wir, die wir doch sind nach GOttes Bild ge-
macht:

Wir liegen leider so, als Sclaven in den Ketten,
Und sind ganz unbesorgt uns aus der Noth zu ret-
ten.

O!
Die wunderbahre Flucht unterſchiedner Voͤgel
Wer aber dabei recht was wunderbahr bedenkt,
Das Auge des Gemuͤts auf ihren Schoͤpfer lenkt:
Der fuͤhlt ein doppeltes, ein inniges Vergnuͤgen,
Wenn ſie zur truͤben Zeit, aus unſrer Gegend flie-
gen.

Wir merken daß ein Thier, ob es gleich nichts ver-
ſteht,

Den Triebe der Natur ganz ordentlich nachgeht;
Sein Thun das richtet ſich nach der Natur Geſe-
zen,

Es kan aus innren Zwang dieſelbe nicht verlezzen.
Die Freiheit fehlet ihm, und kommt die rauhe Zeit,
So iſt der Kranich gleich zu ſeiner Flucht bereit;
Er geht zur andren Welt, ſich daſelbſt zu erhalten,
Wenn in dem ſtarren Froſt die Luͤffte hier erkal-
ten.

Wir Menſchen ſind von GOtt viel herlicher ge-
macht,

Er hat in uns ein Licht des Geiſtes angefacht,
Das heiſſet der Verſtand, das Auge unſrer See-
len,

Der Wille muß darnach in rechter Freiheit waͤhlen,
Was uns als nuͤzlich ſcheint. Allein wir folgen
nicht,

Dem Urtheil allemahl, das der Verſtand ausſpricht,
Verſaͤumen oft die Zeit; wir wollen nicht entflie-
hen,

Wenn truͤbe Wolken ſich auf uns zuſammen ziehen.
Ein Kranich nimmt die Zeit zu ſeiner Flucht in Acht,
Und wir, die wir doch ſind nach GOttes Bild ge-
macht:

Wir liegen leider ſo, als Sclaven in den Ketten,
Und ſind ganz unbeſorgt uns aus der Noth zu ret-
ten.

O!
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[173/0185] Die wunderbahre Flucht unterſchiedner Voͤgel Wer aber dabei recht was wunderbahr bedenkt, Das Auge des Gemuͤts auf ihren Schoͤpfer lenkt: Der fuͤhlt ein doppeltes, ein inniges Vergnuͤgen, Wenn ſie zur truͤben Zeit, aus unſrer Gegend flie- gen. Wir merken daß ein Thier, ob es gleich nichts ver- ſteht, Den Triebe der Natur ganz ordentlich nachgeht; Sein Thun das richtet ſich nach der Natur Geſe- zen, Es kan aus innren Zwang dieſelbe nicht verlezzen. Die Freiheit fehlet ihm, und kommt die rauhe Zeit, So iſt der Kranich gleich zu ſeiner Flucht bereit; Er geht zur andren Welt, ſich daſelbſt zu erhalten, Wenn in dem ſtarren Froſt die Luͤffte hier erkal- ten. Wir Menſchen ſind von GOtt viel herlicher ge- macht, Er hat in uns ein Licht des Geiſtes angefacht, Das heiſſet der Verſtand, das Auge unſrer See- len, Der Wille muß darnach in rechter Freiheit waͤhlen, Was uns als nuͤzlich ſcheint. Allein wir folgen nicht, Dem Urtheil allemahl, das der Verſtand ausſpricht, Verſaͤumen oft die Zeit; wir wollen nicht entflie- hen, Wenn truͤbe Wolken ſich auf uns zuſammen ziehen. Ein Kranich nimmt die Zeit zu ſeiner Flucht in Acht, Und wir, die wir doch ſind nach GOttes Bild ge- macht: Wir liegen leider ſo, als Sclaven in den Ketten, Und ſind ganz unbeſorgt uns aus der Noth zu ret- ten. O!

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Zitationshilfe: Ebeling, Johann Justus: Andächtige Betrachtungen aus dem Buche der Natur und Schrift. Bd. 3. Hildesheim, 1747, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebeling_betrachtungen03_1747/185>, abgerufen am 18.04.2024.