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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

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gen subjectiven Empfindungen ausspricht, ist er noch
keiner zu nennen; aber sobald er die Welt sich anzu¬
eignen und auszusprechen weiß, ist er ein Poet. Und
dann ist er unerschöpflich und kann immer neu seyn,
wogegen aber eine subjective Natur ihr Bischen Inne¬
res bald ausgesprochen hat und zuletzt in Manier zu
Grunde geht."

"Man spricht immer vom Studium der Alten; allein
was will das anders sagen, als: richte dich auf die
wirkliche Welt und suche sie auszusprechen; denn das
thaten die Alten auch, da sie lebten."

Goethe stand auf und ging im Zimmer auf und ab,
während ich, wie er es gerne hat, auf meinem Stuhle
am Tische sitzen blieb. Er stand einen Augenblick am
Ofen, dann aber, wie einer, der etwas bedacht hat,
trat er zu mir heran und den Finger an den Mund
gelegt, sagte er Folgendes:

"Ich will Ihnen etwas entdecken und Sie werden
es in Ihrem Leben vielfach bestätiget finden. Alle im
Rückschreiten und in der Auflösung begriffenen Epochen
sind subjectiv, dagegen aber haben alle vorschreitenden
Epochen eine objective Richtung. Unsere ganze jetzige
Zeit ist eine rückschreitende, denn sie ist eine subjektive.
Dieses sehen Sie nicht bloß an der Poesie, sondern
auch an der Malerey und vielem anderen. Jedes tüchtige
Bestreben dagegen wendet sich aus dem Inneren hinaus
auf die Welt, wie Sie an allen großen Epochen sehen,

gen ſubjectiven Empfindungen ausſpricht, iſt er noch
keiner zu nennen; aber ſobald er die Welt ſich anzu¬
eignen und auszuſprechen weiß, iſt er ein Poet. Und
dann iſt er unerſchoͤpflich und kann immer neu ſeyn,
wogegen aber eine ſubjective Natur ihr Bischen Inne¬
res bald ausgeſprochen hat und zuletzt in Manier zu
Grunde geht.“

„Man ſpricht immer vom Studium der Alten; allein
was will das anders ſagen, als: richte dich auf die
wirkliche Welt und ſuche ſie auszuſprechen; denn das
thaten die Alten auch, da ſie lebten.“

Goethe ſtand auf und ging im Zimmer auf und ab,
waͤhrend ich, wie er es gerne hat, auf meinem Stuhle
am Tiſche ſitzen blieb. Er ſtand einen Augenblick am
Ofen, dann aber, wie einer, der etwas bedacht hat,
trat er zu mir heran und den Finger an den Mund
gelegt, ſagte er Folgendes:

„Ich will Ihnen etwas entdecken und Sie werden
es in Ihrem Leben vielfach beſtaͤtiget finden. Alle im
Ruͤckſchreiten und in der Aufloͤſung begriffenen Epochen
ſind ſubjectiv, dagegen aber haben alle vorſchreitenden
Epochen eine objective Richtung. Unſere ganze jetzige
Zeit iſt eine ruͤckſchreitende, denn ſie iſt eine ſubjektive.
Dieſes ſehen Sie nicht bloß an der Poeſie, ſondern
auch an der Malerey und vielem anderen. Jedes tuͤchtige
Beſtreben dagegen wendet ſich aus dem Inneren hinaus
auf die Welt, wie Sie an allen großen Epochen ſehen,

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[240/0260] gen ſubjectiven Empfindungen ausſpricht, iſt er noch keiner zu nennen; aber ſobald er die Welt ſich anzu¬ eignen und auszuſprechen weiß, iſt er ein Poet. Und dann iſt er unerſchoͤpflich und kann immer neu ſeyn, wogegen aber eine ſubjective Natur ihr Bischen Inne¬ res bald ausgeſprochen hat und zuletzt in Manier zu Grunde geht.“ „Man ſpricht immer vom Studium der Alten; allein was will das anders ſagen, als: richte dich auf die wirkliche Welt und ſuche ſie auszuſprechen; denn das thaten die Alten auch, da ſie lebten.“ Goethe ſtand auf und ging im Zimmer auf und ab, waͤhrend ich, wie er es gerne hat, auf meinem Stuhle am Tiſche ſitzen blieb. Er ſtand einen Augenblick am Ofen, dann aber, wie einer, der etwas bedacht hat, trat er zu mir heran und den Finger an den Mund gelegt, ſagte er Folgendes: „Ich will Ihnen etwas entdecken und Sie werden es in Ihrem Leben vielfach beſtaͤtiget finden. Alle im Ruͤckſchreiten und in der Aufloͤſung begriffenen Epochen ſind ſubjectiv, dagegen aber haben alle vorſchreitenden Epochen eine objective Richtung. Unſere ganze jetzige Zeit iſt eine ruͤckſchreitende, denn ſie iſt eine ſubjektive. Dieſes ſehen Sie nicht bloß an der Poeſie, ſondern auch an der Malerey und vielem anderen. Jedes tuͤchtige Beſtreben dagegen wendet ſich aus dem Inneren hinaus auf die Welt, wie Sie an allen großen Epochen ſehen,

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/260>, abgerufen am 24.04.2024.