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Fassmann, David: Der Gelehrte Narr. Freiburg, 1729.

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und nach der eingewurtzelten Boßheit, fein tumm und thierisch zu leben,
sich entweder in einem gebesserten oder verderbten Zustande befinden müsse.
Aber dieser letztere Stand des Menschen, welchen die Theologi insge-
mein corruptum, die Mystici bestialem, die Philosophi naturalem zu nen-
nen pflegen, ist um so vielmehr mit Händen zu greiffen, als bekannt, daß
die Menschen von Natur in einer angebohrnen Ignorantz, absurden Confu-
sion,
und unvermeidlichen Obscurite biß über die Ohren stecken, aus wel-
chen angebohrnen Fehlern dann hernachmals, als aus einer verderbten
Quelle, alle Vorurtheile des Verstandes Strom-Weise hervor kommen.
Daher finden wir in praxi auch unter denen, die par force gelehrt seyn wollen,
wunderliche Heilige, welche eben so von einer Sache, wie der Blinde von der
Farbe, und der Taube vom Klange urtheilen, ihre Gedancken, so ordentlich
wie ein tiefsinniger und melancholischer Metaphisicus, und ihre gefasten Ideen
so deutlich vorzustellen wissen, daß man mit Recht von solchen gelehrten Pota-
gen-
Machern sagen kan, was jene unbarmhertzigen Nachrichter oder Censores
von eines ehrlichen Professoris Commentario in Apocalypsin Johannis geurthei-
let haben, nemlich: Man müste meynen, daß dieser Commentarius nicht
wegen der Offenbarung
St, Johannis, sondern die Offenbarung St. Jo-
hannis
wegen dieses neuen Commentarii geschrieben worden wäre.

Mittlerweile solte ein jedweder Gelehrter in seiner besondern Disciplin
trachten, die anklebenden Fehler derer Menschen nach allen Kräfften zu verbes-
sern, und der Entzweck aller Disciplinen eintzig und allein dahin gehen, daß
denen verderbten und in blinden Vorurtheilen ersoffenen Leuten, theils die
geistliche, theils die bürgerliche und leibliche Glückseligkeit zuwege gebracht wer-
den möge. Hieraus kan ein jedweder, der noch ein Quintlein Witz in seinem
Gehirn heget, um so viel eher erkennen, wie höchst-nothwendig es seye, daß
ein jedweder auf sich, und auf seinen verderbten Zustand selber, vor allen
Dingen, wohl Achtung geben müsse. Dahero ist das Errare bey denen Men-
schen nicht allein humanum, sondern auch necessarium. Ich will so viel sa-
gen, daß Fehlen und Irren bey denen Leuten, sie mögen von Condition seyn
wie sie wollen, nach ihrem verderbten Zustande unumgänglich seye weil es
nicht möglich ist, daß ein Mensch, und wann er auch Doctor Doctorum, ja
Magister Seraphicus & Anglicus, oder ein Trismegistus omnium Scientiarum
wäre, auf einmal alle Umstände gantz genau einsehen könne. Deswegen
pfleget es auch insgemein zu geschehen, daß sobald die Gelehrten die Incar-

cera-
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und nach der eingewurtzelten Boßheit, fein tumm und thieriſch zu leben,
ſich entweder in einem gebeſſerten oder verderbten Zuſtande befinden muͤſſe.
Aber dieſer letztere Stand des Menſchen, welchen die Theologi insge-
mein corruptum, die Myſtici beſtialem, die Philoſophi naturalem zu nen-
nen pflegen, iſt um ſo vielmehr mit Haͤnden zu greiffen, als bekannt, daß
die Menſchen von Natur in einer angebohrnen Ignorantz, abſurden Confu-
ſion,
und unvermeidlichen Obſcurité biß uͤber die Ohren ſtecken, aus wel-
chen angebohrnen Fehlern dann hernachmals, als aus einer verderbten
Quelle, alle Vorurtheile des Verſtandes Strom-Weiſe hervor kommen.
Daher finden wir in praxi auch unter denen, die par force gelehrt ſeyn wollen,
wunderliche Heilige, welche eben ſo von einer Sache, wie der Blinde von der
Farbe, und der Taube vom Klange urtheilen, ihre Gedancken, ſo ordentlich
wie ein tiefſinniger und melancholiſcher Metaphiſicus, und ihre gefaſten Idéen
ſo deutlich vorzuſtellen wiſſen, daß man mit Recht von ſolchen gelehrten Pota-
gen-
Machern ſagen kan, was jene unbarmhertzigen Nachrichter oder Cenſores
von eines ehrlichen Profeſſoris Commentario in Apocalypſin Johannis geurthei-
let haben, nemlich: Man muͤſte meynen, daß dieſer Commentarius nicht
wegen der Offenbarung
St, Johannis, ſondern die Offenbarung St. Jo-
hannis
wegen dieſes neuen Commentarii geſchrieben worden waͤre.

Mittlerweile ſolte ein jedweder Gelehrter in ſeiner beſondern Diſciplin
trachten, die anklebenden Fehler derer Menſchen nach allen Kraͤfften zu verbeſ-
ſern, und der Entzweck aller Diſciplinen eintzig und allein dahin gehen, daß
denen verderbten und in blinden Vorurtheilen erſoffenen Leuten, theils die
geiſtliche, theils die buͤrgerliche und leibliche Gluͤckſeligkeit zuwege gebracht wer-
den moͤge. Hieraus kan ein jedweder, der noch ein Quintlein Witz in ſeinem
Gehirn heget, um ſo viel eher erkennen, wie hoͤchſt-nothwendig es ſeye, daß
ein jedweder auf ſich, und auf ſeinen verderbten Zuſtand ſelber, vor allen
Dingen, wohl Achtung geben muͤſſe. Dahero iſt das Errare bey denen Men-
ſchen nicht allein humanum, ſondern auch neceſſarium. Ich will ſo viel ſa-
gen, daß Fehlen und Irren bey denen Leuten, ſie moͤgen von Condition ſeyn
wie ſie wollen, nach ihrem verderbten Zuſtande unumgaͤnglich ſeye weil es
nicht moͤglich iſt, daß ein Menſch, und wann er auch Doctor Doctorum, ja
Magiſter Seraphicus & Anglicus, oder ein Trismegiſtus omnium Scientiarum
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[173/0217] und nach der eingewurtzelten Boßheit, fein tumm und thieriſch zu leben, ſich entweder in einem gebeſſerten oder verderbten Zuſtande befinden muͤſſe. Aber dieſer letztere Stand des Menſchen, welchen die Theologi insge- mein corruptum, die Myſtici beſtialem, die Philoſophi naturalem zu nen- nen pflegen, iſt um ſo vielmehr mit Haͤnden zu greiffen, als bekannt, daß die Menſchen von Natur in einer angebohrnen Ignorantz, abſurden Confu- ſion, und unvermeidlichen Obſcurité biß uͤber die Ohren ſtecken, aus wel- chen angebohrnen Fehlern dann hernachmals, als aus einer verderbten Quelle, alle Vorurtheile des Verſtandes Strom-Weiſe hervor kommen. Daher finden wir in praxi auch unter denen, die par force gelehrt ſeyn wollen, wunderliche Heilige, welche eben ſo von einer Sache, wie der Blinde von der Farbe, und der Taube vom Klange urtheilen, ihre Gedancken, ſo ordentlich wie ein tiefſinniger und melancholiſcher Metaphiſicus, und ihre gefaſten Idéen ſo deutlich vorzuſtellen wiſſen, daß man mit Recht von ſolchen gelehrten Pota- gen-Machern ſagen kan, was jene unbarmhertzigen Nachrichter oder Cenſores von eines ehrlichen Profeſſoris Commentario in Apocalypſin Johannis geurthei- let haben, nemlich: Man muͤſte meynen, daß dieſer Commentarius nicht wegen der Offenbarung St, Johannis, ſondern die Offenbarung St. Jo- hannis wegen dieſes neuen Commentarii geſchrieben worden waͤre. Mittlerweile ſolte ein jedweder Gelehrter in ſeiner beſondern Diſciplin trachten, die anklebenden Fehler derer Menſchen nach allen Kraͤfften zu verbeſ- ſern, und der Entzweck aller Diſciplinen eintzig und allein dahin gehen, daß denen verderbten und in blinden Vorurtheilen erſoffenen Leuten, theils die geiſtliche, theils die buͤrgerliche und leibliche Gluͤckſeligkeit zuwege gebracht wer- den moͤge. Hieraus kan ein jedweder, der noch ein Quintlein Witz in ſeinem Gehirn heget, um ſo viel eher erkennen, wie hoͤchſt-nothwendig es ſeye, daß ein jedweder auf ſich, und auf ſeinen verderbten Zuſtand ſelber, vor allen Dingen, wohl Achtung geben muͤſſe. Dahero iſt das Errare bey denen Men- ſchen nicht allein humanum, ſondern auch neceſſarium. Ich will ſo viel ſa- gen, daß Fehlen und Irren bey denen Leuten, ſie moͤgen von Condition ſeyn wie ſie wollen, nach ihrem verderbten Zuſtande unumgaͤnglich ſeye weil es nicht moͤglich iſt, daß ein Menſch, und wann er auch Doctor Doctorum, ja Magiſter Seraphicus & Anglicus, oder ein Trismegiſtus omnium Scientiarum waͤre, auf einmal alle Umſtaͤnde gantz genau einſehen koͤnne. Deswegen pfleget es auch insgemein zu geſchehen, daß ſobald die Gelehrten die Incar- cera- Y 3

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Zitationshilfe: Fassmann, David: Der Gelehrte Narr. Freiburg, 1729, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fassmann_narr_1729/217>, abgerufen am 25.04.2024.