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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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Theologie ist längst zur Anthropologie geworden. So hat
die Geschichte realisirt, zu einem Gegenstande des Bewußtseins
gemacht, was an sich -- hierin ist die Methode Hegels voll-
kommen richtig, historisch begründet -- das Wesen der Theo-
logie war.

Obgleich aber "die unendliche Freiheit und Persönlichkeit"
der modernen Welt sich also der christlichen Religion und
Theologie bemeistert hat, daß der Unterschied zwischen dem
producirenden heiligen Geist der göttlichen Offenbarung und
dem consumirenden menschlichen Geist längst aufgehoben, der
einst übernatürliche und übermenschliche Inhalt des Christen-
thums längst völlig naturalisirt und anthropomorphosirt ist; so
spukt doch immer noch unsrer Zeit und Theologie, in Folge
ihrer unentschiedenen Halbheit und Charakterlosigkeit, das
übermenschliche und übernatürliche Wesen des alten Christen-
thums wenigstens als ein Gespenst im Kopfe. Allein es
wäre eine Aufgabe ohne alles philosophische Interesse gewesen,
wenn der Verfasser den Beweis, daß dieses moderne Gespenst
nur eine Illusion, eine Selbsttäuschung des Menschen ist,
zum Ziele seiner Arbeit sich gesetzt hätte. Gespenster sind
Schatten der Vergangenheit -- nothwendig führen sie uns
auf die Frage zurück: was war einst das Gespenst, als es
noch ein Wesen von Fleisch und Blut war?

Der Verf. muß jedoch den geneigten, insbesondere aber
den ungeneigten Leser ersuchen, nicht außer Acht zu lassen,
daß er, wenn er aus der alten Zeit herausschreibt, darum
noch nicht in der alten, sondern in der neuen Zeit und für
die neue Zeit schreibt, daß er also das moderne Gespenst nicht
außer Augen läßt, während er sein ursprüngliches Wesen be-
trachtet, daß überhaupt zwar der Inhalt dieser Schrift ein
pathologischer oder physiologischer, aber doch ihr Zweck zu-
gleich ein therapeutischer oder praktischer ist.

Dieser Zweck ist -- Beförderung der pneumatischen
Wasserheilkunde
-- Belehrung über den Gebrauch und
Nutzen des kalten Wassers der natürlichen Vernunft --

Theologie iſt längſt zur Anthropologie geworden. So hat
die Geſchichte realiſirt, zu einem Gegenſtande des Bewußtſeins
gemacht, was an ſich — hierin iſt die Methode Hegels voll-
kommen richtig, hiſtoriſch begründet — das Weſen der Theo-
logie war.

Obgleich aber „die unendliche Freiheit und Perſönlichkeit“
der modernen Welt ſich alſo der chriſtlichen Religion und
Theologie bemeiſtert hat, daß der Unterſchied zwiſchen dem
producirenden heiligen Geiſt der göttlichen Offenbarung und
dem conſumirenden menſchlichen Geiſt längſt aufgehoben, der
einſt übernatürliche und übermenſchliche Inhalt des Chriſten-
thums längſt völlig naturaliſirt und anthropomorphoſirt iſt; ſo
ſpukt doch immer noch unſrer Zeit und Theologie, in Folge
ihrer unentſchiedenen Halbheit und Charakterloſigkeit, das
übermenſchliche und übernatürliche Weſen des alten Chriſten-
thums wenigſtens als ein Geſpenſt im Kopfe. Allein es
wäre eine Aufgabe ohne alles philoſophiſche Intereſſe geweſen,
wenn der Verfaſſer den Beweis, daß dieſes moderne Geſpenſt
nur eine Illuſion, eine Selbſttäuſchung des Menſchen iſt,
zum Ziele ſeiner Arbeit ſich geſetzt hätte. Geſpenſter ſind
Schatten der Vergangenheit — nothwendig führen ſie uns
auf die Frage zurück: was war einſt das Geſpenſt, als es
noch ein Weſen von Fleiſch und Blut war?

Der Verf. muß jedoch den geneigten, insbeſondere aber
den ungeneigten Leſer erſuchen, nicht außer Acht zu laſſen,
daß er, wenn er aus der alten Zeit herausſchreibt, darum
noch nicht in der alten, ſondern in der neuen Zeit und für
die neue Zeit ſchreibt, daß er alſo das moderne Geſpenſt nicht
außer Augen läßt, während er ſein urſprüngliches Weſen be-
trachtet, daß überhaupt zwar der Inhalt dieſer Schrift ein
pathologiſcher oder phyſiologiſcher, aber doch ihr Zweck zu-
gleich ein therapeutiſcher oder praktiſcher iſt.

Dieſer Zweck iſt — Beförderung der pneumatiſchen
Waſſerheilkunde
— Belehrung über den Gebrauch und
Nutzen des kalten Waſſers der natürlichen Vernunft

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[VIII/0014] Theologie iſt längſt zur Anthropologie geworden. So hat die Geſchichte realiſirt, zu einem Gegenſtande des Bewußtſeins gemacht, was an ſich — hierin iſt die Methode Hegels voll- kommen richtig, hiſtoriſch begründet — das Weſen der Theo- logie war. Obgleich aber „die unendliche Freiheit und Perſönlichkeit“ der modernen Welt ſich alſo der chriſtlichen Religion und Theologie bemeiſtert hat, daß der Unterſchied zwiſchen dem producirenden heiligen Geiſt der göttlichen Offenbarung und dem conſumirenden menſchlichen Geiſt längſt aufgehoben, der einſt übernatürliche und übermenſchliche Inhalt des Chriſten- thums längſt völlig naturaliſirt und anthropomorphoſirt iſt; ſo ſpukt doch immer noch unſrer Zeit und Theologie, in Folge ihrer unentſchiedenen Halbheit und Charakterloſigkeit, das übermenſchliche und übernatürliche Weſen des alten Chriſten- thums wenigſtens als ein Geſpenſt im Kopfe. Allein es wäre eine Aufgabe ohne alles philoſophiſche Intereſſe geweſen, wenn der Verfaſſer den Beweis, daß dieſes moderne Geſpenſt nur eine Illuſion, eine Selbſttäuſchung des Menſchen iſt, zum Ziele ſeiner Arbeit ſich geſetzt hätte. Geſpenſter ſind Schatten der Vergangenheit — nothwendig führen ſie uns auf die Frage zurück: was war einſt das Geſpenſt, als es noch ein Weſen von Fleiſch und Blut war? Der Verf. muß jedoch den geneigten, insbeſondere aber den ungeneigten Leſer erſuchen, nicht außer Acht zu laſſen, daß er, wenn er aus der alten Zeit herausſchreibt, darum noch nicht in der alten, ſondern in der neuen Zeit und für die neue Zeit ſchreibt, daß er alſo das moderne Geſpenſt nicht außer Augen läßt, während er ſein urſprüngliches Weſen be- trachtet, daß überhaupt zwar der Inhalt dieſer Schrift ein pathologiſcher oder phyſiologiſcher, aber doch ihr Zweck zu- gleich ein therapeutiſcher oder praktiſcher iſt. Dieſer Zweck iſt — Beförderung der pneumatiſchen Waſſerheilkunde — Belehrung über den Gebrauch und Nutzen des kalten Waſſers der natürlichen Vernunft —

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. VIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/14>, abgerufen am 25.04.2024.