Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

das Herz. Zu einem vollkommenen Menschen gehört die
Kraft des Denkens, die Kraft des Willens, die Kraft des
Herzens. Die Kraft des Denkens ist das Licht der Erkennt-
niß, die Kraft des Willens die Energie des Charakters, die
Kraft des Herzens die Liebe. Vernunft, Liebe, Willenskraft
sind Vollkommenheiten, die Vollkommenheiten des mensch-
lichen Wesens, ja absolute Wesensvollkommenheiten.
Wollen, Lieben, Denken sind die höchsten Kräfte, sind das
absolute Wesen des Menschen qua talis, als Menschen, und
der Grund seines Daseins. Der Mensch ist, um zu denken, um
zu lieben, um zu wollen. Was aber der Endzweck, ist auch
der wahre Grund und Ursprung eines Wesens. Aber was ist
der Zweck der Vernunft? die Vernunft. Der Liebe? die Liebe.
Des Willens? die Willensfreiheit. Wir denken, um zu denken,
lieben, um zu lieben, wollen, um zu wollen, d. h. frei zu sein.
Wahres Wesen ist denkendes, liebendes, wollendes Wesen.
Wahr, vollkommen, göttlich ist nur, was um sein selbst
willen
ist. Aber so ist die Liebe, so die Vernunft, so der
Wille. Die göttliche Dreieinigkeit im Menschen über dem
individuellen Menschen ist die Einheit von Vernunft, Liebe,
Wille. Vernunft (in ihren sinnlichen Formen: Einbildungs-
kraft, Phantasie, Vorstellung, Meinung)*), Wille, Liebe
oder Herz sind keine Kräfte, welche der Mensch hat -- denn
er ist nichts ohne sie, er ist, was er ist, nur durch sie -- sie
sind als die sein Wesen, welches er weder hat, noch macht,
constituirenden Kräfte, Elemente oder Principien, die ihn be-
seelenden, bestimmenden, beherrschenden Mächte --

*) Toute opinion est assez forte pour se faire esposer au
prix de la
vie. Montaigne.

das Herz. Zu einem vollkommenen Menſchen gehört die
Kraft des Denkens, die Kraft des Willens, die Kraft des
Herzens. Die Kraft des Denkens iſt das Licht der Erkennt-
niß, die Kraft des Willens die Energie des Charakters, die
Kraft des Herzens die Liebe. Vernunft, Liebe, Willenskraft
ſind Vollkommenheiten, die Vollkommenheiten des menſch-
lichen Weſens, ja abſolute Weſensvollkommenheiten.
Wollen, Lieben, Denken ſind die höchſten Kräfte, ſind das
abſolute Weſen des Menſchen qua talis, als Menſchen, und
der Grund ſeines Daſeins. Der Menſch iſt, um zu denken, um
zu lieben, um zu wollen. Was aber der Endzweck, iſt auch
der wahre Grund und Urſprung eines Weſens. Aber was iſt
der Zweck der Vernunft? die Vernunft. Der Liebe? die Liebe.
Des Willens? die Willensfreiheit. Wir denken, um zu denken,
lieben, um zu lieben, wollen, um zu wollen, d. h. frei zu ſein.
Wahres Weſen iſt denkendes, liebendes, wollendes Weſen.
Wahr, vollkommen, göttlich iſt nur, was um ſein ſelbſt
willen
iſt. Aber ſo iſt die Liebe, ſo die Vernunft, ſo der
Wille. Die göttliche Dreieinigkeit im Menſchen über dem
individuellen Menſchen iſt die Einheit von Vernunft, Liebe,
Wille. Vernunft (in ihren ſinnlichen Formen: Einbildungs-
kraft, Phantaſie, Vorſtellung, Meinung)*), Wille, Liebe
oder Herz ſind keine Kräfte, welche der Menſch hat — denn
er iſt nichts ohne ſie, er iſt, was er iſt, nur durch ſie — ſie
ſind als die ſein Weſen, welches er weder hat, noch macht,
conſtituirenden Kräfte, Elemente oder Principien, die ihn be-
ſeelenden, beſtimmenden, beherrſchenden Mächte —

*) Toute opinion est assez forte pour se faire esposer au
prix de la
vie. Montaigne.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0022" n="4"/><hi rendition="#g">das Herz</hi>. Zu einem vollkommenen Men&#x017F;chen gehört die<lb/>
Kraft des Denkens, die Kraft des Willens, die Kraft des<lb/>
Herzens. Die Kraft des Denkens i&#x017F;t das Licht der Erkennt-<lb/>
niß, die Kraft des Willens die Energie des Charakters, die<lb/>
Kraft des Herzens die Liebe. Vernunft, Liebe, Willenskraft<lb/>
&#x017F;ind <hi rendition="#g">Vollkommenheiten</hi>, die Vollkommenheiten des men&#x017F;ch-<lb/>
lichen We&#x017F;ens, ja <hi rendition="#g">ab&#x017F;olute We&#x017F;ensvollkommenheiten</hi>.<lb/>
Wollen, Lieben, Denken &#x017F;ind die <hi rendition="#g">höch&#x017F;ten Kräfte</hi>, &#x017F;ind das<lb/><hi rendition="#g">ab&#x017F;olute We&#x017F;en</hi> des Men&#x017F;chen <hi rendition="#aq">qua talis,</hi> als Men&#x017F;chen, und<lb/>
der <hi rendition="#g">Grund</hi> &#x017F;eines Da&#x017F;eins. Der Men&#x017F;ch i&#x017F;t, um zu denken, um<lb/>
zu lieben, um zu wollen. Was aber der Endzweck, i&#x017F;t auch<lb/>
der wahre Grund und Ur&#x017F;prung eines We&#x017F;ens. Aber was i&#x017F;t<lb/>
der Zweck der Vernunft? die Vernunft. Der Liebe? die Liebe.<lb/>
Des Willens? die Willensfreiheit. Wir denken, um zu denken,<lb/>
lieben, um zu lieben, wollen, um zu wollen, d. h. frei zu &#x017F;ein.<lb/><hi rendition="#g">Wahres</hi> We&#x017F;en i&#x017F;t denkendes, liebendes, wollendes We&#x017F;en.<lb/>
Wahr, vollkommen, göttlich i&#x017F;t nur, was <hi rendition="#g">um &#x017F;ein &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
willen</hi> i&#x017F;t. Aber &#x017F;o i&#x017F;t die Liebe, &#x017F;o die Vernunft, &#x017F;o der<lb/>
Wille. Die göttliche Dreieinigkeit im Men&#x017F;chen <hi rendition="#g">über</hi> dem<lb/>
individuellen Men&#x017F;chen i&#x017F;t die Einheit von Vernunft, Liebe,<lb/>
Wille. Vernunft (in ihren &#x017F;innlichen Formen: Einbildungs-<lb/>
kraft, Phanta&#x017F;ie, Vor&#x017F;tellung, Meinung)<note place="foot" n="*)"><hi rendition="#aq">Toute opinion est <hi rendition="#g">assez forte</hi> pour se faire esposer <hi rendition="#g">au<lb/>
prix de la</hi> vie. <hi rendition="#g">Montaigne</hi>.</hi></note>, Wille, Liebe<lb/>
oder Herz &#x017F;ind keine Kräfte, welche der Men&#x017F;ch <hi rendition="#g">hat</hi> &#x2014; denn<lb/>
er i&#x017F;t nichts ohne &#x017F;ie, er i&#x017F;t, was er i&#x017F;t, nur durch &#x017F;ie &#x2014; &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ind als die &#x017F;ein We&#x017F;en, welches er weder <hi rendition="#g">hat</hi>, noch <hi rendition="#g">macht</hi>,<lb/>
con&#x017F;tituirenden Kräfte, Elemente oder Principien, die ihn <hi rendition="#g">be-<lb/>
&#x017F;eelenden, be&#x017F;timmenden, beherr&#x017F;chenden Mächte &#x2014;<lb/></hi></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[4/0022] das Herz. Zu einem vollkommenen Menſchen gehört die Kraft des Denkens, die Kraft des Willens, die Kraft des Herzens. Die Kraft des Denkens iſt das Licht der Erkennt- niß, die Kraft des Willens die Energie des Charakters, die Kraft des Herzens die Liebe. Vernunft, Liebe, Willenskraft ſind Vollkommenheiten, die Vollkommenheiten des menſch- lichen Weſens, ja abſolute Weſensvollkommenheiten. Wollen, Lieben, Denken ſind die höchſten Kräfte, ſind das abſolute Weſen des Menſchen qua talis, als Menſchen, und der Grund ſeines Daſeins. Der Menſch iſt, um zu denken, um zu lieben, um zu wollen. Was aber der Endzweck, iſt auch der wahre Grund und Urſprung eines Weſens. Aber was iſt der Zweck der Vernunft? die Vernunft. Der Liebe? die Liebe. Des Willens? die Willensfreiheit. Wir denken, um zu denken, lieben, um zu lieben, wollen, um zu wollen, d. h. frei zu ſein. Wahres Weſen iſt denkendes, liebendes, wollendes Weſen. Wahr, vollkommen, göttlich iſt nur, was um ſein ſelbſt willen iſt. Aber ſo iſt die Liebe, ſo die Vernunft, ſo der Wille. Die göttliche Dreieinigkeit im Menſchen über dem individuellen Menſchen iſt die Einheit von Vernunft, Liebe, Wille. Vernunft (in ihren ſinnlichen Formen: Einbildungs- kraft, Phantaſie, Vorſtellung, Meinung) *), Wille, Liebe oder Herz ſind keine Kräfte, welche der Menſch hat — denn er iſt nichts ohne ſie, er iſt, was er iſt, nur durch ſie — ſie ſind als die ſein Weſen, welches er weder hat, noch macht, conſtituirenden Kräfte, Elemente oder Principien, die ihn be- ſeelenden, beſtimmenden, beherrſchenden Mächte — *) Toute opinion est assez forte pour se faire esposer au prix de la vie. Montaigne.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/22
Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/22>, abgerufen am 24.04.2024.