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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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kästchen. Glaube nicht dem, was er auf der Erde etablirt,
was er hier erlaubt und sanctionirt: hier muß er sich accomo-
diren; hier kommt ihm Manches in die Quere, was nicht in
sein System paßt; hier weicht er Deinem Blick aus, denn er
befindet sich unter fremden Wesen, die ihn schüchtern machen.
Aber belausche ihn, wo er sein Incognito abwirft und sich in
seiner wahren Würde, seinem himmlischen Staate zeigt. Im
Himmel spricht er, wie er denkt; dort vernimmst Du seine
wahre Meinung. Wo sein Himmel, ist sein Herz -- der
Himmel ist sein offnes Herz. Der Himmel ist nichts, als der
Begriff des Wahren, Guten, Gültigen, dessen, was sein soll;
die Erde nichts als der Begriff des Unwahren, Ungültigen,
dessen, was nicht sein soll. Der Christ schließt vom Himmel
das Gattungsleben aus: dort hört die Gattung auf, dort gibt
es nur reine, geschlechtslose Individuen, Geister, dort
herrscht die absolute Subjectivität -- also schließt der Christ
von seinem wahren Leben das Gattungsleben aus; er negirt

religiöses Princip und Vorbild. Anders bei den Griechen, wo
z. B. "Zeus und Here das große Urbild jeder Ehe (Creuzer Symb.),
bei den alten Parsen, wo die Zeugung als "die Vermehrung des Men-
schengeschlechts, die Verminderung des Arhimanischen Reichs,"
also eine religiöse Pflicht und Handlung ist (Zend-Avesta), bei den
Indern, wo der Sohn der wiedergeborne Vater ist.
So der Frau ihr Gemahl nahet, wird er wiedergeboren selbst
Von der, die Mutter durch ihn wird. (Fr. Schlegel.)
Bei den Indern darf kein Wiedergeborner in den Stand eines Sa-
nyassi, das ist eines in Gott versunkenen Einsiedlers treten, wenn er
nicht vorher drei Schulden bezahlt, unter andern die, daß er recht-
licher Weise einen Sohn gezeugt hat
. Bei den Christen dage-
gen, wenigstens den katholischen, war es ein wahres religiöses Freu-
denfest, wenn Verlobte oder schon Verheirathete -- vorausgesetzt, daß
es mit beiderseitiger Einwilligung geschah -- den ehelichen Stand auf-
gaben, der religiösen Liebe die eheliche Liebe aufopferten.

käſtchen. Glaube nicht dem, was er auf der Erde etablirt,
was er hier erlaubt und ſanctionirt: hier muß er ſich accomo-
diren; hier kommt ihm Manches in die Quere, was nicht in
ſein Syſtem paßt; hier weicht er Deinem Blick aus, denn er
befindet ſich unter fremden Weſen, die ihn ſchüchtern machen.
Aber belauſche ihn, wo er ſein Incognito abwirft und ſich in
ſeiner wahren Würde, ſeinem himmliſchen Staate zeigt. Im
Himmel ſpricht er, wie er denkt; dort vernimmſt Du ſeine
wahre Meinung. Wo ſein Himmel, iſt ſein Herz — der
Himmel iſt ſein offnes Herz. Der Himmel iſt nichts, als der
Begriff des Wahren, Guten, Gültigen, deſſen, was ſein ſoll;
die Erde nichts als der Begriff des Unwahren, Ungültigen,
deſſen, was nicht ſein ſoll. Der Chriſt ſchließt vom Himmel
das Gattungsleben aus: dort hört die Gattung auf, dort gibt
es nur reine, geſchlechtsloſe Individuen, Geiſter, dort
herrſcht die abſolute Subjectivität — alſo ſchließt der Chriſt
von ſeinem wahren Leben das Gattungsleben aus; er negirt

religiöſes Princip und Vorbild. Anders bei den Griechen, wo
z. B. „Zeus und Here das große Urbild jeder Ehe (Creuzer Symb.),
bei den alten Parſen, wo die Zeugung als „die Vermehrung des Men-
ſchengeſchlechts, die Verminderung des Arhimaniſchen Reichs,“
alſo eine religiöſe Pflicht und Handlung iſt (Zend-Aveſta), bei den
Indern, wo der Sohn der wiedergeborne Vater iſt.
So der Frau ihr Gemahl nahet, wird er wiedergeboren ſelbſt
Von der, die Mutter durch ihn wird. (Fr. Schlegel.)
Bei den Indern darf kein Wiedergeborner in den Stand eines Sa-
nyaſſi, das iſt eines in Gott verſunkenen Einſiedlers treten, wenn er
nicht vorher drei Schulden bezahlt, unter andern die, daß er recht-
licher Weiſe einen Sohn gezeugt hat
. Bei den Chriſten dage-
gen, wenigſtens den katholiſchen, war es ein wahres religiöſes Freu-
denfeſt, wenn Verlobte oder ſchon Verheirathete — vorausgeſetzt, daß
es mit beiderſeitiger Einwilligung geſchah — den ehelichen Stand auf-
gaben, der religiöſen Liebe die eheliche Liebe aufopferten.
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[224/0242] käſtchen. Glaube nicht dem, was er auf der Erde etablirt, was er hier erlaubt und ſanctionirt: hier muß er ſich accomo- diren; hier kommt ihm Manches in die Quere, was nicht in ſein Syſtem paßt; hier weicht er Deinem Blick aus, denn er befindet ſich unter fremden Weſen, die ihn ſchüchtern machen. Aber belauſche ihn, wo er ſein Incognito abwirft und ſich in ſeiner wahren Würde, ſeinem himmliſchen Staate zeigt. Im Himmel ſpricht er, wie er denkt; dort vernimmſt Du ſeine wahre Meinung. Wo ſein Himmel, iſt ſein Herz — der Himmel iſt ſein offnes Herz. Der Himmel iſt nichts, als der Begriff des Wahren, Guten, Gültigen, deſſen, was ſein ſoll; die Erde nichts als der Begriff des Unwahren, Ungültigen, deſſen, was nicht ſein ſoll. Der Chriſt ſchließt vom Himmel das Gattungsleben aus: dort hört die Gattung auf, dort gibt es nur reine, geſchlechtsloſe Individuen, Geiſter, dort herrſcht die abſolute Subjectivität — alſo ſchließt der Chriſt von ſeinem wahren Leben das Gattungsleben aus; er negirt *) *) religiöſes Princip und Vorbild. Anders bei den Griechen, wo z. B. „Zeus und Here das große Urbild jeder Ehe (Creuzer Symb.), bei den alten Parſen, wo die Zeugung als „die Vermehrung des Men- ſchengeſchlechts, die Verminderung des Arhimaniſchen Reichs,“ alſo eine religiöſe Pflicht und Handlung iſt (Zend-Aveſta), bei den Indern, wo der Sohn der wiedergeborne Vater iſt. So der Frau ihr Gemahl nahet, wird er wiedergeboren ſelbſt Von der, die Mutter durch ihn wird. (Fr. Schlegel.) Bei den Indern darf kein Wiedergeborner in den Stand eines Sa- nyaſſi, das iſt eines in Gott verſunkenen Einſiedlers treten, wenn er nicht vorher drei Schulden bezahlt, unter andern die, daß er recht- licher Weiſe einen Sohn gezeugt hat. Bei den Chriſten dage- gen, wenigſtens den katholiſchen, war es ein wahres religiöſes Freu- denfeſt, wenn Verlobte oder ſchon Verheirathete — vorausgeſetzt, daß es mit beiderſeitiger Einwilligung geſchah — den ehelichen Stand auf- gaben, der religiöſen Liebe die eheliche Liebe aufopferten.

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/242>, abgerufen am 16.04.2024.