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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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stechliche, unverblendete Wesen in uns -- das reine affectlose
Licht der Intelligenz. Der Verstand ist das kategorische rück-
sichtslose Bewußtsein der Sache als Sache, weil er selbst
objectiver Natur, das Bewußtsein des Widerspruchlosen,
weil er selbst widerspruchslose Einheit, die Quelle der logischen
Identität ist, das Bewußtsein des Gesetzes, der Nothwen-
digkeit
, der Regel, des Maaßes, weil er selbst Gesetzesthä-
tigkeit, die Nothwendigkeit der Natur der Dinge als Selbst-
thätigkeit
, die Regel der Regeln, das absolute Maaß, das
Maaß der Maaße ist. Durch den Verstand nur kann der
Mensch im Widerspruch mit seinen theuersten persönlichen
und menschlichen Gefühlen urtheilen und handeln, wenn es also
der Verstandesgott, das Gesetz gebietet. Der Vater, welcher
seinen eignen Sohn, weil er ihn schuldig erkannt, als Richter
zum Tode selbst verurtheilt, vermag dieß nur als Verstandes-
nicht als Gefühlsmensch. Der Verstand zeigt uns die Fehler
selbst unsrer Geliebten -- selbst unsre eignen. Er versetzt uns
deßwegen so oft in peinliche Collision mit uns selbst, mit unserm
Herzen. Wir wollen dem Verstande nicht Recht lassen: wir
wollen nicht aus Schonung, aus Nachsicht das wahre, aber
harte, aber rücksichtslose Urthel des Verstandes vollstrecken.
Der Verstand ist das eigentliche Gattungsvermögen --
das Herz vertritt die besondern Angelegenheiten, die Indi-
viduen
, der Verstand die allgemeinen Angelegenheiten; er
ist die übermenschliche, unpersönliche Kraft oder Wesen-
heit im Menschen. Nur durch den Verstand und in dem Ver-
stande hat der Mensch die Kraft, von sich selbst, d. h. von
seinem subjectiven Wesen zu abstrahiren, sich zu erheben zu all-
gemeinen Begriffen und Verhältnissen, den Gegenstand zu un-
terscheiden von den Eindrücken, die er auf das Gemüth macht,

ſtechliche, unverblendete Weſen in uns — das reine affectloſe
Licht der Intelligenz. Der Verſtand iſt das kategoriſche rück-
ſichtsloſe Bewußtſein der Sache als Sache, weil er ſelbſt
objectiver Natur, das Bewußtſein des Widerſpruchloſen,
weil er ſelbſt widerſpruchsloſe Einheit, die Quelle der logiſchen
Identität iſt, das Bewußtſein des Geſetzes, der Nothwen-
digkeit
, der Regel, des Maaßes, weil er ſelbſt Geſetzesthä-
tigkeit, die Nothwendigkeit der Natur der Dinge als Selbſt-
thätigkeit
, die Regel der Regeln, das abſolute Maaß, das
Maaß der Maaße iſt. Durch den Verſtand nur kann der
Menſch im Widerſpruch mit ſeinen theuerſten perſönlichen
und menſchlichen Gefühlen urtheilen und handeln, wenn es alſo
der Verſtandesgott, das Geſetz gebietet. Der Vater, welcher
ſeinen eignen Sohn, weil er ihn ſchuldig erkannt, als Richter
zum Tode ſelbſt verurtheilt, vermag dieß nur als Verſtandes-
nicht als Gefühlsmenſch. Der Verſtand zeigt uns die Fehler
ſelbſt unſrer Geliebten — ſelbſt unſre eignen. Er verſetzt uns
deßwegen ſo oft in peinliche Colliſion mit uns ſelbſt, mit unſerm
Herzen. Wir wollen dem Verſtande nicht Recht laſſen: wir
wollen nicht aus Schonung, aus Nachſicht das wahre, aber
harte, aber rückſichtsloſe Urthel des Verſtandes vollſtrecken.
Der Verſtand iſt das eigentliche Gattungsvermögen
das Herz vertritt die beſondern Angelegenheiten, die Indi-
viduen
, der Verſtand die allgemeinen Angelegenheiten; er
iſt die übermenſchliche, unperſönliche Kraft oder Weſen-
heit im Menſchen. Nur durch den Verſtand und in dem Ver-
ſtande hat der Menſch die Kraft, von ſich ſelbſt, d. h. von
ſeinem ſubjectiven Weſen zu abſtrahiren, ſich zu erheben zu all-
gemeinen Begriffen und Verhältniſſen, den Gegenſtand zu un-
terſcheiden von den Eindrücken, die er auf das Gemüth macht,

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[39/0057] ſtechliche, unverblendete Weſen in uns — das reine affectloſe Licht der Intelligenz. Der Verſtand iſt das kategoriſche rück- ſichtsloſe Bewußtſein der Sache als Sache, weil er ſelbſt objectiver Natur, das Bewußtſein des Widerſpruchloſen, weil er ſelbſt widerſpruchsloſe Einheit, die Quelle der logiſchen Identität iſt, das Bewußtſein des Geſetzes, der Nothwen- digkeit, der Regel, des Maaßes, weil er ſelbſt Geſetzesthä- tigkeit, die Nothwendigkeit der Natur der Dinge als Selbſt- thätigkeit, die Regel der Regeln, das abſolute Maaß, das Maaß der Maaße iſt. Durch den Verſtand nur kann der Menſch im Widerſpruch mit ſeinen theuerſten perſönlichen und menſchlichen Gefühlen urtheilen und handeln, wenn es alſo der Verſtandesgott, das Geſetz gebietet. Der Vater, welcher ſeinen eignen Sohn, weil er ihn ſchuldig erkannt, als Richter zum Tode ſelbſt verurtheilt, vermag dieß nur als Verſtandes- nicht als Gefühlsmenſch. Der Verſtand zeigt uns die Fehler ſelbſt unſrer Geliebten — ſelbſt unſre eignen. Er verſetzt uns deßwegen ſo oft in peinliche Colliſion mit uns ſelbſt, mit unſerm Herzen. Wir wollen dem Verſtande nicht Recht laſſen: wir wollen nicht aus Schonung, aus Nachſicht das wahre, aber harte, aber rückſichtsloſe Urthel des Verſtandes vollſtrecken. Der Verſtand iſt das eigentliche Gattungsvermögen — das Herz vertritt die beſondern Angelegenheiten, die Indi- viduen, der Verſtand die allgemeinen Angelegenheiten; er iſt die übermenſchliche, unperſönliche Kraft oder Weſen- heit im Menſchen. Nur durch den Verſtand und in dem Ver- ſtande hat der Menſch die Kraft, von ſich ſelbſt, d. h. von ſeinem ſubjectiven Weſen zu abſtrahiren, ſich zu erheben zu all- gemeinen Begriffen und Verhältniſſen, den Gegenſtand zu un- terſcheiden von den Eindrücken, die er auf das Gemüth macht,

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/57>, abgerufen am 25.04.2024.