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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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Incarnation. Die Incarnation ist nichts andres als die
thatsächliche sinnliche Erscheinung von der menschlichen Na-
tur
Gottes. Die Incarnation war nur eine Folge der gött-
lichen Liebe und Barmherzigkeit. Seinetwegen ist Gott nicht
Mensch geworden. Die Noth, das Bedürfniß des Menschen
-- ein Bedürfniß, das übrigens heute noch ein Bedürfniß des
religiösen Gemüths -- war der Grund der Incarnation. Aus
Barmherzigkeit wurde er Mensch -- er war also schon in sich
selbst ein menschlicher Gott, ehe er wirklicher Mensch wurde;
denn er fühlte das menschliche Bedürfniß; es ging ihm das
menschliche Elend zu Herzen. Die Incarnation war eine
Thräne des göttlichen Mitleids, also nur eine Erscheinung ei-
nes menschlich fühlenden, darum wesentlich menschlichen We-
sens.

Wenn der menschgewordne Gott in der Incarnation
als das Erste gesetzt und betrachtet wird, so erscheint freilich
die Menschwerdung Gottes als ein unerwartetes, frappirendes,
wunderbares, geheimnißvolles Ereigniß. Allein der mensch-
gewordne
Gott ist nur die Erscheinung des gottgeword-
nen
Menschen, was freilich im Rücken des religiösen Be-
wußtseins
liegt; denn der Herablassung Gottes zum Men-
schen geht nothwendig die Erhebung des Menschen zu Gott
vorher. Der Mensch war schon in Gott, war schon Gott
selbst
, ehe Gott Mensch wurde. Wie hätte sonst Gott Mensch
werden können? Ex nihilo nil fit. Ein Gott, der sich nicht
um Menschliches kümmert, wird nicht um des Menschen willen
Mensch werden. Ein König, der nicht auf seinem Herzen das
Wohl seiner Unterthanen trägt, der nicht schon auf dem Throne
mit seinem Geiste in den Wohnungen derselben weilt, nicht
schon in seiner Gesinnung, wie das Volk spricht, ein gemei-

Feuerbach. 4

Incarnation. Die Incarnation iſt nichts andres als die
thatſächliche ſinnliche Erſcheinung von der menſchlichen Na-
tur
Gottes. Die Incarnation war nur eine Folge der gött-
lichen Liebe und Barmherzigkeit. Seinetwegen iſt Gott nicht
Menſch geworden. Die Noth, das Bedürfniß des Menſchen
— ein Bedürfniß, das übrigens heute noch ein Bedürfniß des
religiöſen Gemüths — war der Grund der Incarnation. Aus
Barmherzigkeit wurde er Menſch — er war alſo ſchon in ſich
ſelbſt ein menſchlicher Gott, ehe er wirklicher Menſch wurde;
denn er fühlte das menſchliche Bedürfniß; es ging ihm das
menſchliche Elend zu Herzen. Die Incarnation war eine
Thräne des göttlichen Mitleids, alſo nur eine Erſcheinung ei-
nes menſchlich fühlenden, darum weſentlich menſchlichen We-
ſens.

Wenn der menſchgewordne Gott in der Incarnation
als das Erſte geſetzt und betrachtet wird, ſo erſcheint freilich
die Menſchwerdung Gottes als ein unerwartetes, frappirendes,
wunderbares, geheimnißvolles Ereigniß. Allein der menſch-
gewordne
Gott iſt nur die Erſcheinung des gottgeword-
nen
Menſchen, was freilich im Rücken des religiöſen Be-
wußtſeins
liegt; denn der Herablaſſung Gottes zum Men-
ſchen geht nothwendig die Erhebung des Menſchen zu Gott
vorher. Der Menſch war ſchon in Gott, war ſchon Gott
ſelbſt
, ehe Gott Menſch wurde. Wie hätte ſonſt Gott Menſch
werden können? Ex nihilo nil fit. Ein Gott, der ſich nicht
um Menſchliches kümmert, wird nicht um des Menſchen willen
Menſch werden. Ein König, der nicht auf ſeinem Herzen das
Wohl ſeiner Unterthanen trägt, der nicht ſchon auf dem Throne
mit ſeinem Geiſte in den Wohnungen derſelben weilt, nicht
ſchon in ſeiner Geſinnung, wie das Volk ſpricht, ein gemei-

Feuerbach. 4
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[49/0067] Incarnation. Die Incarnation iſt nichts andres als die thatſächliche ſinnliche Erſcheinung von der menſchlichen Na- tur Gottes. Die Incarnation war nur eine Folge der gött- lichen Liebe und Barmherzigkeit. Seinetwegen iſt Gott nicht Menſch geworden. Die Noth, das Bedürfniß des Menſchen — ein Bedürfniß, das übrigens heute noch ein Bedürfniß des religiöſen Gemüths — war der Grund der Incarnation. Aus Barmherzigkeit wurde er Menſch — er war alſo ſchon in ſich ſelbſt ein menſchlicher Gott, ehe er wirklicher Menſch wurde; denn er fühlte das menſchliche Bedürfniß; es ging ihm das menſchliche Elend zu Herzen. Die Incarnation war eine Thräne des göttlichen Mitleids, alſo nur eine Erſcheinung ei- nes menſchlich fühlenden, darum weſentlich menſchlichen We- ſens. Wenn der menſchgewordne Gott in der Incarnation als das Erſte geſetzt und betrachtet wird, ſo erſcheint freilich die Menſchwerdung Gottes als ein unerwartetes, frappirendes, wunderbares, geheimnißvolles Ereigniß. Allein der menſch- gewordne Gott iſt nur die Erſcheinung des gottgeword- nen Menſchen, was freilich im Rücken des religiöſen Be- wußtſeins liegt; denn der Herablaſſung Gottes zum Men- ſchen geht nothwendig die Erhebung des Menſchen zu Gott vorher. Der Menſch war ſchon in Gott, war ſchon Gott ſelbſt, ehe Gott Menſch wurde. Wie hätte ſonſt Gott Menſch werden können? Ex nihilo nil fit. Ein Gott, der ſich nicht um Menſchliches kümmert, wird nicht um des Menſchen willen Menſch werden. Ein König, der nicht auf ſeinem Herzen das Wohl ſeiner Unterthanen trägt, der nicht ſchon auf dem Throne mit ſeinem Geiſte in den Wohnungen derſelben weilt, nicht ſchon in ſeiner Geſinnung, wie das Volk ſpricht, ein gemei- Feuerbach. 4

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/67>, abgerufen am 25.04.2024.