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Forkel, Johann Nikolaus: Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Leipzig, 1802.

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im Gesange zu thun. Bach bewies der Mode seine Achtung dadurch, daß er ebenfalls einige Stücke in dieser Art componirte. Eines derselben ist das Präludium in E moll aus dem ersten Theil des wohltemp. Claviers. Er kehrte aber bald zur Natur und zum reinen Geschmack zurück, und änderte es so um, wie es nun gestochen ist.

Jedes Jahrzehend hat einige Formen von melodischen Wendungen, die demselben eigen sind, die aber gewöhnlich schon mit dem Ablauf desselben veralten. Ein Componist, der seine Werke auf die Nachwelt zu bringen gedenkt, muß sich vor ihnen hüten. Bach scheiterte in seinen frühern Jahren ebenfalls an dieser Klippe. Seine ersten Orgelcomponisten, und seine zweystimmigen Inventionen nach ihrer ersten Gestalt sind voll von Floskeln seines Zeitgeschmacks. Die Orgelsachen sind geblieben, wie sie einmahl waren; aber die Inventionen haben große Verbesserungen erhalten. Das Publicum wird bald Gelegenheit haben, sie in ihrer ältern und neuern Gestalt mit einander zu vergleichen, da die Verlagshandlung den rühmlichen Entschluß gefaßt hat, die erste Ausgabe derselben zu unterdrücken, und den Interessenten eine verbesserte dafür zu liefern.

Die bisher angegebenen Verbesserungsmittel erstrecken sich jedoch nur auf äußere Form, und auf das zu viel und zu wenig in der Darstellung eines Gedankens im Großen. Aber Bach bediente sich noch weit häufiger feinerer Mittel zur Vervollkommnung seiner Werke, die man kaum beschreiben kann. Einheit des Styls und Charakters wird oft in einzelnen Stellen durch Umänderung einer einzigen Note erhalten, gegen welche in ihrer vorigen Lage auch der strengste musikalische Grammatiker nichts erinnern konnte, die aber dennoch den Kenner immer noch etwas anderes wünschen ließ. Auch gemeine Sätze werden oft durch Veränderung, Wegnehmen oder Hinzusetzen einer einzigen Note in die edelsten umgeschaffen. Hier kann nur das geübteste Gefühl und der feinste, gebildetste Geschmack entscheiden. Dieses seine Gefühl und diesen gebildeten Geschmack besaß Bach in der höchsten Vollkommenheit. Er hatte beydes nach und nach so geübt, daß ihm zuletzt gar kein Gedanke mehr kommen konnte, der nicht sogleich nach allen seinen Eigenschaften und Beziehungen dem Ganzen so angehörte, wie er sollte und mußte. Seine spätern Werke sind daher sämmtlich wie in einem Guß gegossen, so weich, sanft und eben strömt der ungeheure Reichthum der verschiedensten in einander verschmolzenen Gedanken darin

im Gesange zu thun. Bach bewies der Mode seine Achtung dadurch, daß er ebenfalls einige Stücke in dieser Art componirte. Eines derselben ist das Präludium in E moll aus dem ersten Theil des wohltemp. Claviers. Er kehrte aber bald zur Natur und zum reinen Geschmack zurück, und änderte es so um, wie es nun gestochen ist.

Jedes Jahrzehend hat einige Formen von melodischen Wendungen, die demselben eigen sind, die aber gewöhnlich schon mit dem Ablauf desselben veralten. Ein Componist, der seine Werke auf die Nachwelt zu bringen gedenkt, muß sich vor ihnen hüten. Bach scheiterte in seinen frühern Jahren ebenfalls an dieser Klippe. Seine ersten Orgelcomponisten, und seine zweystimmigen Inventionen nach ihrer ersten Gestalt sind voll von Floskeln seines Zeitgeschmacks. Die Orgelsachen sind geblieben, wie sie einmahl waren; aber die Inventionen haben große Verbesserungen erhalten. Das Publicum wird bald Gelegenheit haben, sie in ihrer ältern und neuern Gestalt mit einander zu vergleichen, da die Verlagshandlung den rühmlichen Entschluß gefaßt hat, die erste Ausgabe derselben zu unterdrücken, und den Interessenten eine verbesserte dafür zu liefern.

Die bisher angegebenen Verbesserungsmittel erstrecken sich jedoch nur auf äußere Form, und auf das zu viel und zu wenig in der Darstellung eines Gedankens im Großen. Aber Bach bediente sich noch weit häufiger feinerer Mittel zur Vervollkommnung seiner Werke, die man kaum beschreiben kann. Einheit des Styls und Charakters wird oft in einzelnen Stellen durch Umänderung einer einzigen Note erhalten, gegen welche in ihrer vorigen Lage auch der strengste musikalische Grammatiker nichts erinnern konnte, die aber dennoch den Kenner immer noch etwas anderes wünschen ließ. Auch gemeine Sätze werden oft durch Veränderung, Wegnehmen oder Hinzusetzen einer einzigen Note in die edelsten umgeschaffen. Hier kann nur das geübteste Gefühl und der feinste, gebildetste Geschmack entscheiden. Dieses seine Gefühl und diesen gebildeten Geschmack besaß Bach in der höchsten Vollkommenheit. Er hatte beydes nach und nach so geübt, daß ihm zuletzt gar kein Gedanke mehr kommen konnte, der nicht sogleich nach allen seinen Eigenschaften und Beziehungen dem Ganzen so angehörte, wie er sollte und mußte. Seine spätern Werke sind daher sämmtlich wie in einem Guß gegossen, so weich, sanft und eben strömt der ungeheure Reichthum der verschiedensten in einander verschmolzenen Gedanken darin

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        <p>Die bisher angegebenen Verbesserungsmittel erstrecken sich jedoch nur auf äußere Form, und auf das zu viel und zu wenig in der Darstellung eines Gedankens im Großen. Aber Bach bediente sich noch weit häufiger feinerer Mittel zur Vervollkommnung seiner Werke, die man kaum beschreiben kann. Einheit des Styls und Charakters wird oft in einzelnen Stellen durch Umänderung einer einzigen Note erhalten, gegen welche in ihrer vorigen Lage auch der strengste musikalische Grammatiker nichts erinnern konnte, die aber dennoch den Kenner immer noch etwas anderes wünschen ließ. Auch gemeine Sätze werden oft durch Veränderung, Wegnehmen oder Hinzusetzen einer einzigen Note in die edelsten umgeschaffen. Hier kann nur das geübteste Gefühl und der feinste, gebildetste Geschmack entscheiden. Dieses seine Gefühl und diesen gebildeten Geschmack besaß Bach in der höchsten Vollkommenheit. Er hatte beydes nach und nach so geübt, daß ihm zuletzt gar kein Gedanke mehr kommen konnte, der nicht sogleich nach allen seinen Eigenschaften und Beziehungen dem Ganzen so angehörte, wie er sollte und mußte. Seine spätern Werke sind daher sämmtlich wie in einem Guß gegossen, so weich, sanft und eben strömt der ungeheure Reichthum der verschiedensten in einander verschmolzenen Gedanken darin
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[64/0074] im Gesange zu thun. Bach bewies der Mode seine Achtung dadurch, daß er ebenfalls einige Stücke in dieser Art componirte. Eines derselben ist das Präludium in E moll aus dem ersten Theil des wohltemp. Claviers. Er kehrte aber bald zur Natur und zum reinen Geschmack zurück, und änderte es so um, wie es nun gestochen ist. Jedes Jahrzehend hat einige Formen von melodischen Wendungen, die demselben eigen sind, die aber gewöhnlich schon mit dem Ablauf desselben veralten. Ein Componist, der seine Werke auf die Nachwelt zu bringen gedenkt, muß sich vor ihnen hüten. Bach scheiterte in seinen frühern Jahren ebenfalls an dieser Klippe. Seine ersten Orgelcomponisten, und seine zweystimmigen Inventionen nach ihrer ersten Gestalt sind voll von Floskeln seines Zeitgeschmacks. Die Orgelsachen sind geblieben, wie sie einmahl waren; aber die Inventionen haben große Verbesserungen erhalten. Das Publicum wird bald Gelegenheit haben, sie in ihrer ältern und neuern Gestalt mit einander zu vergleichen, da die Verlagshandlung den rühmlichen Entschluß gefaßt hat, die erste Ausgabe derselben zu unterdrücken, und den Interessenten eine verbesserte dafür zu liefern. Die bisher angegebenen Verbesserungsmittel erstrecken sich jedoch nur auf äußere Form, und auf das zu viel und zu wenig in der Darstellung eines Gedankens im Großen. Aber Bach bediente sich noch weit häufiger feinerer Mittel zur Vervollkommnung seiner Werke, die man kaum beschreiben kann. Einheit des Styls und Charakters wird oft in einzelnen Stellen durch Umänderung einer einzigen Note erhalten, gegen welche in ihrer vorigen Lage auch der strengste musikalische Grammatiker nichts erinnern konnte, die aber dennoch den Kenner immer noch etwas anderes wünschen ließ. Auch gemeine Sätze werden oft durch Veränderung, Wegnehmen oder Hinzusetzen einer einzigen Note in die edelsten umgeschaffen. Hier kann nur das geübteste Gefühl und der feinste, gebildetste Geschmack entscheiden. Dieses seine Gefühl und diesen gebildeten Geschmack besaß Bach in der höchsten Vollkommenheit. Er hatte beydes nach und nach so geübt, daß ihm zuletzt gar kein Gedanke mehr kommen konnte, der nicht sogleich nach allen seinen Eigenschaften und Beziehungen dem Ganzen so angehörte, wie er sollte und mußte. Seine spätern Werke sind daher sämmtlich wie in einem Guß gegossen, so weich, sanft und eben strömt der ungeheure Reichthum der verschiedensten in einander verschmolzenen Gedanken darin

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Zitationshilfe: Forkel, Johann Nikolaus: Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Leipzig, 1802, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/forkel_bach_1802/74>, abgerufen am 29.03.2024.